1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Jetzt kriecht eine Sehnsucht genau danach durch meinen Körper, die mir unangenehm ist.
Ein dunkelhaariger Junge hat seinen Arm um eine Blonde gelegt, eine sehr Hübsche. Sein Arm schwebt auf ihren Schultern, als wüsste der Arm nicht so genau, ob es ihm erlaubt wäre, dort zu sein. Der Junge traut sich was. Ich erinnere mich daran, wie es sich in diesem Alter angefühlt hat, wenn man alles riskiert, mit nur einer Bewegung, sein ganzes Selbstverständnis. Sieg oder Niederlage. Vielleicht ist das immer noch so.
Sie lässt ihn und sein Gesicht explodiert fast unter einem schmalen, scheuen Lächeln.
Wie sehr ich ihn fühlen kann, hier im Wagen, durch die Scheibe starrend, mit Kartoffelsalat zwischen den Füßen.
Wo fahren die hin? Ich würde gern wissen, was sie sich ausmalen … was sie denken, was passieren könnte … dort, wo sie hinfahren. Geister, die sich mitten in ihrem eigenen Urknall befinden, die alle ihre eigene Sonne sind.
Ich seufze schon wieder und stecke weiterhin Kartoffeln in meinen Mund. Mein Leben fühlt sich an, als würde ich in einem fertigen Gemälde leben.
Denke an die Playmobilfrau und strecke mit Schwung meine Arme gerade nach vorne.
»Was ist jetzt los? Glaubst du, das hält dich davon ab, den Kartoffelsalat aufzuessen?«, fragt Jonas mit einem kurzen Seitenblick.
Er bringt mich zum Lachen und ein bisschen dankbar lege ich meine Hand auf sein Bein und drücke kurz und fest zu.
Die Truppe Neandertaler mit dem Bierbollerwagen verschwindet im Hauptbahnhof.
Ich beneide sie, weil für sie alles offen ist, sie haben keine Ahnung, was als Nächstes passiert. Alles könnte passieren.
Ich weiß genau was gleich passiert. Ich weiß ziemlich genau alles, was gleich passiert, und auch, wie es ablaufen wird.
Wir sind im Speckgürtel der Stadt gelandet. Jonas’ Eltern haben mit Abstand noch das unauffälligste Gartentor. Eines, das nicht so aussieht, als wolle es die Köpfe ungebetener Gäste aufspießen. Manche Zäune hier haben sogar goldene Spitzen.
Während ich versuche, den Kartoffelsalat wieder so zu arrangieren, dass er nicht halb weggefressen aussieht, und dazu muss ich so viel Mayonnaise vom Rand runterwischen und dann von den Fingern lecken, dass mir langsam schlecht wird, jammre ich darüber, dass jetzt nicht mehr genug Kartoffelsalat da ist.
Jonas sagt, er würde eh nicht verstehen, warum ich mir mit den Salaten so einen Stress mache, seine Mutter hätte garantiert auch einen Kartoffelsalat und einen Tomatensalat gemacht. Wie immer. Erst schiebt sie es dir zu, sagt er, und dann macht sie es trotzdem selbst. Das weißt du doch.
Die Jungs schnallen sich ab, obwohl wir noch nicht angehalten haben. »Wir sind eingeladen und sie hat darum gebeten«, sage ich. »Das macht man einfach nicht, dass man dann nichts mitbringt.« »Aha«, sagt er, so als wäre das nur eine spießige Vorstellung von mir. »Ich möchte auch nicht, dass wir eine Familie sind, die kommt und nichts mitbringt. Einer muss es also machen.«
»Dann mach es, wenn es dir wichtig ist«, sagt er. Dafür könnte ich ihn …
Kaum stehen wir, passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Die Jungs öffnen beide ihre Autotür und stürmen in Richtung Haustür, die sich in diesem Moment öffnet. Jonas’ Eltern stehen in der Tür, wie zwei Heilige in einem Adventskalendertürchen. Die Autotüren bleiben natürlich offen, Jonas stöhnt, steigt aus und knallt sie nacheinander zu. Im gleichen Augenblick stürmen die Jungs ins Haus, vorbei an Oma und Opa und dann fällt die Haustür hinter den Vieren mit lautem Knall ins Schloss. Das war’s dann, denke ich, ohne Zusammenhang.
Jonas und ich stehen allein in der Einfahrt, wie die Zuschauer einer seltsamen Rhythmus-Performance.
»Was war das denn jetzt?«, frage ich, weil ich gern noch ein bisschen mit ihm hier stehen möchte. Wir könnten uns auf den Kies setzen. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter lehnen.
Jonas zuckt mit den Schultern, er murmelt irgendwas vor sich hin und kramt seinen Schlüssel aus der Tasche. Ich nehme die Schüsseln und trotte hinter ihm her zum Haus.
»Kannst du dann bitte die Kiste aus dem Kofferraum mitnehmen?«
Jonas dreht sich zu mir um und fragt mich, welche Kiste ich meine.
Im Flur stellt er die Kiste ab, streckt sich und stöhnt dabei so laut, als wäre er den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Mir fällt auf, dass er das oft macht bei seinen Eltern. Stöhnen und seufzen. Es führt immer dazu, dass Inge ihn fragt, wie es ihm geht, und ihm sagt, er solle sich hinsetzen. Inge taucht aus der Küche auf und küsst ihren Sohn zwei Mal und mitten auf den Mund.
»Na, du Lieber«, sagt sie. Dann küsst sie mich ebenfalls, auf die Wange, und schaut in die Schüsseln. »Ach, du Liebe, du hast Salate gemacht!« Als ob das eine Überraschung wäre, denke ich.
»Jetzt hab ich aber auch welche gemacht.« Sie legt tatsächlich beide Hände über den Mund und sieht mich erschrocken an. »Na ja, besser zu viel als zu wenig, oder? Das kriegen wir schon weg«, murmelt sie hinter ihren Händen und macht dabei einen kleinen sinnlosen Hüpfer.
Inge ist das, was man eine liebe Frau nennt. Sie gibt sich immer Mühe. Das ist allerdings genau das, was mich anstrengt, dieses sich Mühe geben, es gibt mir das Gefühl, ihr ständig helfen zu müssen, und dazu habe ich keine Lust.
Ich drücke ihr die beiden Schüsseln in die Hand und bleibe im Flur stehen.
Jonas fragt, ob er was helfen kann. Inge lacht und sagt: »Ja, du kannst dich in den Garten setzen und den Weg frei machen.«
Mein Blick wandert ziellos über die Wände, weil ich noch darüber nachdenke, ob sie damit meint, dass ich jetzt in der Küche helfen soll, und bleibt dann an einem Kalender hängen. 2015 steht da.
Eine Möwe fliegt durch einen blauen Himmel über ein blaues Meer, kaum erkennbar, was Luft und was Wasser ist. Solche Bilder sind nichts für mich.
Haben wir nicht 2016?
Haben sie vergessen, den abzunehmen, oder ist das mittlerweile egal? 2015 … 2016?
Macht das tatsächlich einen Unterschied? Ich komme zu dem Schluss, dass die Jahre ziemlich gleichförmig geworden sind. Sie unterscheiden sich in Kleinigkeiten, manchmal gibt es Neuigkeiten, aber im Großen und Ganzen tun sie das, was man von ihnen erwartet.
Wenn Weihnachten abgebaut ist, kann man auch gleich schon wieder Ostern aufbauen. Irgendwas ist immer los.
»Danke, dass du an den Champagner gedacht hast.« Jonas streicht mir kurz über den Rücken. Ich nicke. Er geht raus. Ich bleibe im Flur zurück.
»Hallo Jochen.«
Jonas Vater kommt die Treppe herunter und wedelt mit zwei Büchern, eines in jeder Hand.
»Hallo Gnädigste«, sagt er und küsst meine Hand. Ich mag Jonas’ Vater. In der curryfarbenen Cordhose mit dem grünen Pullover und den wirren grauen Haaren sieht er aus wie ein verstrahlter Physikprofessor. Jochen ist auch ein freundlicher Mensch. Jonas stammt von zwei wirklich freundlichen Menschen ab, denke ich.
Trotzdem ärgere ich mich über die Salate, die ich umsonst gemacht habe, und darüber, dass Jonas jetzt draußen auf der Terrasse sitzt und Inge mich tatsächlich in die Küche ruft und mir eine Tischdecke in die Hand drückt. Ich habe auch noch immer keinen geeigneten Platz für diesen lästigen Gedanken gefunden, der mir seit heute Morgen durch den Kopf wandert.
Mein Körper ist nervend unruhig. Ich stehe mit der gefalteten Tischdecke in der Hand einen Moment zu lange in der Küchentür.
»Bitte auf den Gartentisch.«
Ich nicke und gehe mit der Tischdecke nach draußen.
Die Jungs sind am Gartenteich und suchen nach Fröschen. Jonas sitzt seitlich auf einer Gartenliege und starrt auf sein Telefon.
Der Holztisch ist noch feucht vom morgendlichen Regen. Ich weiß gar nicht, was ich damit meine, dass ich »das so nicht will«.
»So« ist ein sehr kleines Wort, es hat nur zwei Buchstaben und kann in diesem Satz alles und nichts meinen. Ich mag mein Leben. Ich mag die Menschen darin. Ich weiß gar nicht, wie ich es anders machen sollte. Es fehlt nur so viel. Mir ist so vieles abhandengekommen. Es reicht einfach nicht. Der Gedanke hinterlässt eine ungute Spur, während er über alle anderen Gedanken des Tages rüberkriecht. Wie Schneckenschleim klebt er an allem, was geschieht, und beschmutzt es.
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