Ich werfe das Tischtuch in die Luft, halte es nur an zwei Zipfeln, es flattert hoch und ich sehe zu, wie es sich aufbläht. Ein Segel. Alles wird weiß, Jonas und die Kinder verschwinden dahinter.
In dem kurzen Moment zwischen Steigen und Fallen, in dem die Tischdecke jetzt schwebt, halte ich die Luft an. Dann sinkt sie herab und begräbt den feuchten Holztisch unter sich.
Alles weiß. Alles weg.
Mein Blick wandert über die leere weiße Fläche. Nichts drauf. Noch nicht. Ein weißes, leeres Blatt. Plötzlich landet ein Maikäfer. Dunkel, kein schönes Braun, mit seinen kleinen Füßchen kratzt er über den weißen Stoff. Fliegen die nicht eigentlich in der Dämmerung?
Er bewegt sich langsam, es hat etwas Unheilverkündendes, wie er sich über die weiße Fläche bewegt, wie eine dunkle Vorahnung. Ich bilde mir plötzlich ein, das Geräusch der Füße zu hören, das Kratzen, natürlich ist das eher unwahrscheinlich.
Er sitzt jetzt einfach nur da, in der Mitte der scheinbar unendlich weißen Weite und bewegt sich nicht mehr. Im Hintergrund, in der Unschärfe, sehe ich verschwommen die Farben von Inges Blumen. Verschwommenes Blau und Rot. Und viel zu viel Gelb.
Der dunkle Käfer ist mir unangenehm. Sein Verharren hat etwas Bedrohliches.
Ich halte die Schüssel mit dem Kartoffelsalat in den Händen und warte. Ich habe es, glaube ich, noch nicht mal gesehen, höchstens geahnt oder gespürt, die kleine Bewegung seiner Flügel, das leichte, unmerkliche Anheben, und in der Sekunde, in der ich denke, jetzt hebt er ab und fliegt weg, lasse ich die Schüssel auf ihn niedersinken. Ich stelle sie auf den Tisch. Mitten auf den Tisch. Mitten auf den Käfer. Meine Hände drücken die Schüssel immer weiter nach unten. Ich zerquetsche ihn. Den dunklen Botschafter. Es fühlt sich an, als hätte ich das Richtige getan. Meinen Gedanken zerquetscht.
Ich stehe da, halte die Luft an und spüre, wie meine Füße sich in den Boden drücken. Die Kraft, mit der ich ihn zerquetsche … ich hab sie wirklich nicht mehr alle.
Alle decken den Tisch gemeinsam, die Jungs kriegen eine Menge guter Tipps und Ermahnungen von ihren Großeltern.
Inge zeigt ihnen, wie man das Besteck richtig hinlegt, und schickt sie dann rein, um die bunten Plastikbecher zu holen. Ich stehe viel rum, hauptsächlich im Weg.
»Es ist wichtig, dass die Jungs die Benimmregeln lernen«, sagt Inge zu mir im Vorbeigehen.
Ja. Ist mir auch klar. Ich nicke und sage nichts dazu. Was soll ich dazu sagen? Ich habe einen Käfer getötet.
Ich weiß, dass sie mich nicht kritisieren wollte. Die Jungs liegen ihr am Herzen. Inge würde alles für die Jungs tun, das weiß ich, sie fühlt sich verantwortlich. Jochen und Inge sind immer mit ganzem Herzen bei den Kindern, immer etwas erschöpft, wenn wir lange bei ihnen waren, und wahrscheinlich auch erleichtert, wenn wir endlich wieder gehen … Großeltern sind vielleicht so … wahrscheinlich war es doch eine Kritik …
Die weiße schwere Schüssel steht in der Tischmitte, der Käfer liegt darunter. Tot. Mit Sicherheit tot. Niemand hat die Schüssel bis jetzt angehoben. Es ist etwas, worauf ich warte. Dass jemand die Schüssel anhebt. Meine Tat entdeckt. Fast wünsche ich es mir.
Ich betrachte die vielen Hände. Die Bewegungen, die sie machen, wandern durch meinen leeren Blick. Johns Hand, wie sie die Becher schiebt, einen blauen und ein grünen, an seinen Platz, da ist Jonas’ Hand, die das Telefon auf den Tisch legt, Inges Hände mit Tellern, dann Gläsern und immer noch mehr Schüsseln. Ich beobachte, wie all diese Hände Bewegungen ausführen, sanfte, bestimmte, fordernde oder ungeduldige, so als hätten sie ihre eigene Sprache, sie erzählen, unbemerkt von ihren Besitzern. Ich beobachte Inges gleichbleibendes Lächeln, während ihre Hände die Lage der Messer, die Mika mal rechts, mal links neben die Teller geschoben hat, mit eifriger Beharrlichkeit korrigieren.
Mikas kleine Hand greift über den Tisch, Johns Hand hat Apfelsaft in die Becher gegossen, Mikas Hand greift nach dem grünen. John greift nach Mikas Hand und hält sie fest: »Grün ist meiner!«
Mika reißt den Arm weg und der Becher kippt, Apfelsaft läuft über das weiße Tischtuch.
Jochens Hand haut auf den Tisch, Inges legt sich darüber und ich sehe den Druck, mit dem sie seine Hand nach unten drückt.
»Och nee, Jungs!« Inges Gesicht zuckt unruhig. Erst da ruckt mein Kopf nach oben.
»Lass Inge«, sage ich. Bin auch schon aufgestanden. Inge aber auch.
»Ich hol einen Lappen. Lass. Lass, Inge, ich mach das schon.«
Die Küche steht voller Schüsseln, Salate, Dips, ich zähle mindestens drei verschiedene Nachspeisen. Dann entdecke ich die Uhr. Inge hat sich die Landhausuhr gekauft und ich erinnere mich, dass ich die tatsächlich auch in der Hand hatte. Als Ersatz für meine, die ich hässlich finde. Auf der hier ist der schwarze Hahn, den ich im Laden auch kurz gut fand, obwohl ich die Idee dieser Uhr, so zu tun, als hätte unser Leben irgendwas mit Land und Hühnern zu tun, überhaupt eine Uhr, die auf Antik macht, während sie gerade aus Taiwan eingeschifft wurde, ablehne. Das ist auch nichts anderes, als Botox in Falten zu spritzen, nur andersrum eben.
Ich habe einen lächerlich wütenden Gedanken, einfach nur weil ich vor ein paar Tagen eine Uhr in der Hand hatte, die einer Frau wie Inge offensichtlich auch gefällt. Ich mag Inge … ich will aber nicht die gleichen Uhren mögen wie sie. Ich werde irgendwann diese ordnenden Hände bekommen, denke ich, Hände, die alles immer wieder dorthin schieben, wo es hingehören soll. Hab ich ja jetzt schon. Mit leerem Blick starre ich noch immer auf die Uhr, während ich den toten Käfer vor mir sehe, sein dunkles Brummen höre. Wie eine Warnung klingt das.
Es klingelt an der Tür und ich bin froh darüber.
Frank steht vor mir und grinst mich an. Er trägt eine dünne, rote Outdoorjacke und wie immer einen Rucksack.
»Du musst aufhören, diese Rucksäcke zu tragen«, sage ich und lächle ihn an, weil ich mich wirklich freue, ihn zu sehen.
Frank sagt, den Teufel werde er tun, und nimmt mich fest in den Arm. Es ist schön, dass Frank die Leute immer richtig in den Arm nimmt, man fühlt sich gemeint und kurz lass ich mich reinfallen, in seinen Körpergeruch und in die Wärme dahinter.
Hinten am Auto sehe ich Andrea, kopfüber ins Auto gebückt, ihr schwarzer Rock ist hochgerutscht, ich kann ihr fast zwischen die Beine sehen. Sie taucht mit fünf Baguettebroten aus dem Auto auf. Was denkt sie denn, wie viele Leute kommen? Warum bringen alle immer so viel mit? So viel Essen. Wozu brauchen wir so viel Essen?
»In meinem Rucksack ist heute Champagner«, Frank grinst mich an, »denn … was ist heute für ein Tag … na?«
»Wenn ich nach dem Kalender meiner Schwiegereltern gehe, irgendwas mit 2015«, sage ich.
»Nein! Das ist ganz falsch! Heute ist der große Tag des vierjährigen Praxisjubiläums und das werden wir feiern!«
»Geh mal rein jetzt, bitte«, Andrea schiebt ihn mit den Broten durch die Tür und Andrea und ich drücken kurz unsere Körper aneinander und küssen uns auf die Wange, wie man das eben so macht.
»Wir haben auch Champagner mit«, sage ich. Ich schicke die beiden raus in den Garten und hole dann die Flaschen aus dem Kühlschrank. Als ich wieder auf die Terrasse komme, fragt Inge mich nach dem Lappen und steht dann auf, um ihn selbst zu holen.
Die Sonne ist fast schon heiß geworden. Meine Strickjacke habe ich zur Seite gelegt. Es ist schön, im T-Shirt hier zu sitzen und warme Haut zu haben. Ich lehne mich zurück und beobachte die Jungs. Inge hat Champagnergläser mitgebracht und Jochen schenkt ein.
»Auf vier fantastische, erfolgreiche Jahre und unsere geile Freundschaft und, nicht zu vergessen, auf unsere fantastischen Patienten! Auf uns, Jonas! Die zwei besten Physiotherapeuten der Stadt!«
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