1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Mir macht auch Sorgen, dass das Gespenst der Angst wieder umgeht«, sagt Mugdi. »Wir wären besser dran ohne SUVs, die in Flughäfen rasen, oder Bomben, die in U-Bahnhöfen explodieren. Für Dhaqanehs Witwe und die Kinder und viele andere in ähnlicher Lage machen derart barbarische Anschläge alles nur noch komplizierter. Und für uns auch, wir sind alle gefährdet.«
Ein paar Minuten später krümmt sich Gacalo auf ihrem Stuhl zusammen und beugt den Kopf vor. Die Augen sind geschlossen, die Kiefer verspannt, und sie knirscht mit den Zähnen, als habe sie Schmerzen. Mugdi und Timiro wissen um ihr schwaches Herz. Mugdi erinnert sich an ein ähnliches Aufflackern der Symptome, als sie die Nachricht von Dhaqanehs Selbstmord erhielten. Und wie um seinen Befund zu bestätigen, presst sie die Hand auf die linke Brustseite. Mugdi geht zu ihr, nimmt ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, Liebling. Es wird alles gut werden.«
Gacalo richtet sich auf und atmet tief ein und aus. Dann öffnet sie die Augen und schaut sie an, als wundere sie sich, noch am Leben zu sein. »Hoffentlich.«
Nach einer erholsamen Nacht fühlt sich Gacalo am nächsten Morgen viel besser und frühstückt mit Timiro. Die junge Frau holt sich ein Glas Wasser und setzt sich wieder zu ihrer Mutter. »Heute Nacht hatte ich einen bizarren Traum«, sagt sie.
»Warum bizarr?«
»Ich war in Genf auf einer Party, und da hat sich der Absatz von meinem rechten Schuh gelöst. Die Frau in dem Laden, wo ich das reparieren lassen wollte, hat gesagt, dass die Schuhe ein billiges Imitat sind.«
Das Telefon klingelt, und Timiro verstummt. Gacalo hebt ab. Der Anrufer stellt sich als stellvertretender Leiter der Politiets utlendingsenhet, kurz PU, vor – der Abteilung der Ausländerpolizei, die für die Registrierung frisch eingetroffener Asylbewerber zuständig ist.
»Ich habe ein paar Fragen vorab«, sagt er. »Und zwar zu Frau Ahmed und ihren beiden minderjährigen Kindern, die behaupten, Verwandte von Ihnen zu sein. Sie ist die Witwe Ihres Sohnes, der norwegischer Staatsbürger war. Es wäre nötig, dass Sie persönlich bei uns vorbeischauen, um noch weitere Fragen zu beantworten.«
»Ich weiß, dass sie im Land sind, weil Waliya und ich telefonisch in Verbindung stehen.«
»Die Witwe behauptet, sie sind Ihre Gäste.«
»Ja, sie und die Kinder sind unsere Gäste.«
»Sie sagt, Sie hätten Ihnen eine Wohnung besorgt und würden für Ihren Unterhalt aufkommen, bis die norwegische Einwanderungsbehörde über ihren Status entschieden hat. Ist das korrekt?«
»Ja, das ist korrekt.«
»Ist Ihnen klar, dass die Witwe und ihre Kinder bis zur Bewilligung des Aslyantrags keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat haben?«, fragt er.
»Ja, das ist mir klar.«
»Bringen Sie bitte alle nötigen Dokumente mit, auch den Mietvertrag für das Haus oder die Wohnung, wo Ihre Verwandten leben werden. Wenn Sie diese Bedingungen erfüllen, können Sie Ihre Verwandten aus unserem Gewahrsam abholen.« Dann gibt er ihr die Adresse.
»Kann auch mein Mann mit den unterschriebenen Dokumenten vorbeikommen und sie abholen?«, fragt sie.
»Natürlich«, sagt der Beamte und legt auf.
Sie hat kaum aufgelegt, als Mugdi in die Küche kommt. Er ist noch im Schlafanzug und reibt sich zum Erwachen in der neuen Realität, von der Gacalo ihm sicher gleich berichten wird, die Augen. Er umarmt sie und Timiro und setzt sich dann den beiden gegenüber an den Tisch. Er fragt sich, ob heute ein besonderer Tag ist, denn sie trägt ein somalisches Kleid mit Blumenmuster. Dann berichtet sie ihm kurz, was der Beamte gesagt hat.
»Könntest du gleich zum Flughafen fahren und sie aus der Ankunftshalle abholen, Liebling.«
»Natürlich«, sagt er.
Als Mugdi wieder vor dem Ausgang der Ankunftshalle steht, ertönt plötzlich auf einem Handy der Ruf des Muezzin, der alle Muslime zum Nachmittagsgebet ruft. Er schaut sich neugierig nach dem Besitzer des Handys um und ist gespannt, wie die Nichtmuslime darauf reagieren. Sein Blick fällt auf einen jungen Mann mit Vollbart ohne Schnäuzer, der nicht weit entfernt von einer alten Frau in Nonnentracht steht – himmelblaue Tunika, weißes Skapulier mit schwarzen Fransen. Er praktiziert seinen Glauben zwar selten, aber als geborener Muslim weckt der Ruf des Muezzin doch Erinnerungen in ihm.
Mugdi interessiert, was die Nonne von alldem hält. Sie bemerkt, dass er sie beobachtet. Ihr Mund breitet sich zu einem herzlichen Lächeln aus, ihre Augen leuchten freundlich. Er schätzt, dass die Frau aus dem Süden Indiens oder von Sri Lanka stammt. Da sie neben einem Rollstuhl mit einem sehr alten Mann steht, hält er sie für seine Pflegerin. Bei genauerer Betrachtung fällt ihm die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Vielleicht sind sie verwandt.
»Wie alt ist er?«, fragt Mugdi.
»Gerade neunzig geworden«, sagt sie.
»Sie sehen sich so ähnlich, sind Sie verwandt?«
»Er ist mein älterer Bruder.«
»Kommen Sie aus Südindien oder Sri Lanka?«
»Sri Lanka.«
»Waren Sie lange hier in Norwegen?«
»Ja, viel zu lange.«
»Wir auch«, sagt Mugdi. »Meine Frau und ich.«
»Aber in letzter Zeit hat mein Bruder das Wetter nicht mehr vertragen«, fährt sie fort. »Und da der Bürgerkrieg ja nun mehr oder weniger vorbei ist, hat er sich entschlossen, seine restlichen Tage in Colombo zu verbringen. Dort möchte er auch begraben werden.«
Der alte Mann lässt den Strohhalm, mit dem er getrunken hat, auf den Boden fallen. Seine Schwester hebt ihn auf, wischt ihn mit einer Papierserviette ab und gibt ihn ihm zurück. »Und Sie?«, fragt sie. »Werden Sie später auch einmal dahin zurückkehren, wo Sie herkommen? Um dort zu sterben und begraben zu werden?«
»Ich wünschte, ich wüsste, ob ich überhaupt zurückgehen könnte.«
»Ihr Akzent hört sich nach Somalia an. Die Kämpfe in Ihrem Land wüten immer noch, oder?«
Mugdi zögert. »Ja, ich komme aus Somalia.«
»Ihr Bokmål ist ausgezeichnet«, sagt sie.
»Ich bin ja auch schon über zwanzig Jahre hier.«
»Ich heiße Tam, kurz für Tamannah«, sagt sie.
»Mich nennen alle Mugdi«, sagt er.
Tam holt ein Taschentuch hervor und wischt ihrem Bruder sanft etwas Speichel vom Kinn. Er erschrickt und öffnet die Augen. »Was?« Sie sagt etwas auf Tamilisch zu ihm. Der alte Mann nickt, und sein Kiefer bewegt sich wie bei einem Baby, das im Schlaf schmatzt.
»Heißt eigentlich jeder zweite Somali Mohammed?«
»Kennen Sie viele Somalis?«
»Ich habe ein paar Bekannte in der Nachbarschaft, in Grønland. Kommt mir immer so vor, als hieße einer von dreien Mohammed. Aber sie haben auch viele Spitznamen. Haben Sie noch andere Vornamen?«, fragt sie ihn.
»Zufälligerweise ist mein Vorname tatsächlich Mohammed«, sagt er. »Aber ich sage immer Mugdi, wenn man mich fragt. Das ist mein Spitzname, er bedeutet ›schwarz wie die Nacht‹. Meine Mutter hat mir den Namen gegeben, als sie mich zum ersten Mal gesehen hat. ›Mein Gott‹, hat sie gesagt. ›Ich habe die Nacht geboren.‹ Und dann hat sie laut gelacht.«
»Leben Sie auch in Grønland?«
»Nein, in Bislett.«
»Viele Somalis in meiner Straße sind zu laut und zu wild«, sagt sie. »Manche scheinen es geradezu auf Ärger anzulegen. Erst vor Kurzem hat das Jugendamt fünf oder sechs von ihnen die Kinder weggenommen und in Pflegeheime gesteckt.«
Mugdi hat von einigen somalischen Eltern gehört, die mit dem Jugendamt in Konflikt geraten sind. Er hat auch von Somalis gehört, die aus Angst vor dem Jugendamt und staatlicher Fürsorge ihre Kinder zurück nach Somalia oder zu anderen Verwandten in Europa geschickt haben.
»Sie wollen nicht verreisen, oder?«, sagt Tam.
»Ich warte auf die Witwe meines Sohnes und ihre Kinder.«
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