Das ruhige Leben eines somalischen Paares in Oslo wird durch die Ankunft der Witwe ihres Sohnes und deren Kinder unwiderruflich verändert. Ein wichtiger Roman über Familie, Politik und Gewalt von einem der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Afrikas.
Seit Jahrzehnten leben Gacalo und Mugdi in Oslo, wo sie ein ruhiges und weitgehend assimiliertes Leben geführt und ihre zwei Kinder großgezogen haben. Doch nachdem ihr geliebter Sohn Dhaqaneh sich den Dschihadisten in Somalia angeschlossen hat und bei einem Selbstmordattentat ums Leben gekommen ist, gerät ihre Welt aus den Fugen. Schweren Herzens bieten sie seiner somalischen Familie an, nach Oslo zu kommen.
Als sich aber ihre Schwiegertochter immer mehr in die Religion vertieft, während ihre Kinder sich nach den Freiheiten ihrer neuen Heimat sehnen, gibt es einen Bruch in der Familie, der ihrer aller Leben unwiderruflich verändern wird.
Vor dem Hintergrund realer Ereignisse erzählt Nuruddin Farah eine provokative und umwerfende Geschichte von Liebe, Loyalität und nationaler Identität, die uns die Frage stellt, ob es je möglich ist, einem Erbe der Gewalt zu entkommen – und wenn ja, zu welchem Preis.
»In diesem wunderbaren und berührenden Buch wird das Politische persönlich.«
THE OPRAH MAGAZINE
Nuruddin Farah wurde am 24. November 1945 im südsomalischen Baidoa geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Afrikas. Heute lebt Farah in Kapstadt.
NURUDDIN FARAH
ROMAN
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Verlag Antje Kunstmann
Zur Erinnerung an
meine geliebte jüngere Schwester,
die 2014 in Kabul
von Terroristen der Taliban
getötet wurde
Imru’ al-Qais geht ab und sagt:
»Am Anfang war das Wort.
Am Anfang des Wortes war Blut.«
Concerto al-Quds, Adonis
In Somalia explodieren seit Monaten Bomben. Am Straßenrand deponierte Sprengfallen töten und verstümmeln jeden, der das Pech hat, ihnen zu nahe zu kommen. In Mogadischu leben die Menschen wegen der häufigen und unvorhersehbaren Explosionen in ständiger Anspannung. Wie viele verletzt oder getötet wurden, weiß niemand. Kein Mensch interessiert sich mehr für die Einzelheiten, es sei denn, er kennt den Namen des Opfers oder des Täters.
Meine Frau Gacalo hingegen las alles über die Bombenanschläge. Stundenlang durchforstete sie Artikel nach dem Namen eines Mannes, der in der Terrorgruppe Al-Shabaab aktiv war. Sie suchte nach Nachrichten über unseren Sohn.
Fünf oder sechs Jahre waren vergangen, seit Dhaqaneh nach Somalia gegangen war. Nachdem er mir bei seinem letzten Besuch in Oslo unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass er im Namen des Islam jeden töten würde, auch unsere Freunde Johan und Birgitta, hatte ich den Kontakt zu ihm abgebrochen. Ich nahm seine Anrufe nicht mehr an, antwortete nicht auf seine E-Mails und sagte Gacalo, ich könne nicht mehr mit ihm diskutieren und hätte auch kein Interesse daran. Allerdings stieß ich auf verschiedenen somalischen Webseiten, die erschreckend oft über Al-Shabaabs Taten berichten, zufällig auf seinen Namen und die Hassreden, die er dort veröffentlichte. Für Gacalo war es unvorstellbar, den Kontakt abzubrechen. Sie blieb mit ihm in Verbindung, überwies sogar gelegentlich Geld an einen Mittelsmann, das dieser an ihn weiterleitete.
Erst kürzlich habe ich von unserer Tochter Timiro erfahren, dass Gacalo, um mit Dhaqaneh telefonieren zu können, eine geheime Nummer benutzt hat, die nur sie, er und eine bestimmte andere Person kannten.
Wenn er nicht ans Telefon ging, wenn sie ihn anrief, hinterließ sie ihm mittels eines bestimmten Codes eine Nachricht. Auf die Mailbox sprach sie nur ungern, weil sie nicht wusste, wessen Mailbox sie ihre Geheimnisse anvertraute.
Als Dhaqaneh eine Frau namens Waliya heiratete, die einen Sohn und eine Tochter hatte, entspannte sich Gacalo etwas, obwohl sie ihre Schwiegertochter nie getroffen, nur mit ihr telefoniert hat. Deren warme Stimme hatte ihr Trost und das Gefühl von Vertrauen vermittelt.
Als Dhaqanehs norwegischer Pass ablief, sagte ihm Gacalo, er solle ihn in der norwegischen Botschaft in Nairobi verlängern lassen. Aber Dhaqaneh wollte jede Verbindung zu Norwegen kappen. In einem Brief an Gacalo schreibt er, dass er keinen Pass benutzen könne, auf dem vorne das Kreuz prange, das schamlose Symbol des Christentums. Gacalo verstand das nicht nur als eine Abkehr von Norwegen, sondern auch von ihr. Sie flehte ihn an, seine Entscheidung zu überdenken, aber er weigerte sich, und so brach auch sie eine Zeit lang den Kontakt ab.
Als sie das nächste Mal miteinander sprachen, machte Dhaqaneh mit seiner Frau und seinen Stiefkindern in Nairobi Ferien. Er hatte sich kurz zuvor einen somalischen Pass gekauft. Somalia sei für ihn »nach dem Iran das einzige Land, das einem islamischen Staat am nächsten kommt«, sagte er zu seiner Mutter. Dann war wieder Funkstille, in der wir – Gacalo und ich – unabhängig voneinander auf somalischen Webseiten nach Nachrichten von ihm suchten. In der Al-Shabaab war er inzwischen zum stellvertretenden Chef der Region Banaadir aufgestiegen, zu der auch Mogadischu gehört. Die häufigen Explosionen in der Hauptstadt forderten immer mehr Opfer, und viele machten Dhaqaneh dafür verantwortlich. Als er und seine Mutter schließlich wieder miteinander sprachen, hoffte sie, er würde abstreiten, dass seine Männer für das Schlachten verantwortlich seien. Aber das tat er nicht. Stattdessen musste sie ihm versprechen, sich um seine Frau und die Kinder zu kümmern, sollte er durch seine Feinde oder bei einem Angriff auf seinen Kommandoposten zu Tode kommen.
Einen Monat nach diesem Gespräch waren seine Männer auf dem Weg zum internationalen Flughafen, wo sie ein Bombenattentat verüben wollten, mit ihrem Wagen auf eine Sprengfalle gefahren. Alle waren sofort tot. Laut Gerüchten und Berichten auf somalischen Nachrichten-Webseiten und in der internationalen Presse hat sich Dhaqaneh danach am Eingang des Flughafens in die Luft gesprengt, um »seine Männer zu rächen«. Er sei sofort tot gewesen.
Gacalo war tief getroffen. Der Schock war so heftig, dass sie Fieber bekam und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Wollte sie in ein anderes Zimmer gehen, musste sie sich auf Stuhllehnen und an der Wand abstützen. Schließlich wies der Arzt sie wegen ihres schwachen Herzens ins Krankenhaus ein. Dort stand sie zwei Wochen unter ständiger Beobachtung, erholte sich wieder und erinnerte sich an ihr Versprechen, sich um Waliya und ihre Kinder zu kümmern.
Derzeit streiten Gacalo und ich, ob wir im Rahmen des Familiennachzugs Waliya und die beiden Kinder zu uns nach Oslo holen sollen. Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll. Was soll aus uns werden, wenn sich herausstellen sollte, dass Waliya Probleme hat oder – noch schlimmer – eine Terroristin ist. Davor habe ich Angst.
OSLO
Seit mehreren Monaten kämpft Gacalo um Mugdis Zustimmung, Dhaqanehs Witwe Waliya und ihre beiden Kinder nach Oslo zu holen. Mugdi kennt Gacalo und weiß, dass sie ihre Tochter Timiro, die zu Besuch aus Genf gekommen ist, Mugdis jüngeren Bruder Kaluun, ihre Freunde Johan und Birgitta Nielsen sowie Himmo, eine enge Freundin von ihnen beiden, für ihr Anliegen einspannen wird. Himmo ist Somalierin und lebt in Oslo. Ihrer Meinung nach solle sich Gacalo zwar um die Witwe und ihre beiden Kinder kümmern, allerdings da, wo sie sich jetzt aufhalten, in Kenia. Aber Gacalo wird nicht aufgeben, bis Mugdi und alle anderen ihr zugestimmt haben.
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