Gacalo ist bestürzt. Sie wünscht, sie hätte vorher mit Timiro über dieses Thema gesprochen.
»Warum sagst du, dass Norwegen dafür das falsche Land ist?«, fragte Waliya. »Gibt es hier keine Muslime, die den Koran unterrichten und ihren Kindern die Überlieferungen des Propheten nahebringen?«
Fast versagt Gacalo die Stimme, als sie Waliya erläutert: »Du musst wissen, die staatlichen Schulen hier vermitteln nicht die Art von ›guter Erziehung‹, die du dir für Saafi und Naciim vorstellst.«
»Und wie machen das die anderen Muslime?«, fragt Waliya.
»Moscheen und Islamzentren bieten Kurse an, aber nur nach der Schule«, sagt Gacalo. »Außerhalb des Lehrplans, nicht als Hauptfächer.«
»Gibt es keine anderen Möglichkeiten?«
»Die beste wäre, zu warten, bis sie ihr erstes Examen an der Universität gemacht haben«, sagt Timiro. »Dann können sie einen Masterabschluss in Theologie machen.«
Aus ihrem Gesichtsausdruck schließt Timiro, dass Waliya keine Ahnung hat, was ein erstes Examen oder ein Masterabschluss ist oder wo man diese erwirbt.
Timiro wechselt das Thema und fragt: »Warum hast du dich und deine Kinder überhaupt so einer großen Gefahr ausgesetzt, um es bis nach Oslo zu schaffen?«
»Was soll das, Timiro?«, wirft Gacalo ein, als Waliya wiederholt, dass sie nur das Beste für ihre Kinder will.
»Mit der Erziehung, die du dir vorstellst, wenn sie denn zu haben wäre, landen deine Kinder nur in der breiten Unterschicht Norwegens«, sagt Timiro.
Gacalo und Waliya hören schweigend zu, als Timiro in scharfem Ton fortfährt. »Warum bist du nicht in ein islamisches Land wie Saudi-Arabien gegangen, wo deine Kinder in den Genuss der von dir so ersehnten ›guten Erziehung‹ kommen würden?«
Schließlich fällt Gacalo ihr energisch ins Wort. »Du hörst dich an, als würdest du in einem umkämpften Wahlkreis für eine rechte Partei um Stimmen werben.«
»Du hältst dich da raus, Mama.«
Die erregte Timiro beginnt, Waliya zu verhören. »Wie alt warst du, als du aus Somalia geflohen bist und Unterschlupf in Kenia gefunden hast?«
»Ich war fünfzehn, sechzehn.«
»Hast du jemals außerhalb des Haushalts gearbeitet?«
»Warum fragst du?«
»Außer als Callgirl?«
»Wer sagt, dass ich ein Callgirl war?«
»Mein Bruder hat mir in einem seiner seltenen Anrufe erzählt, wie du früher gewesen bist. Erst, da waren deine Kinder noch kleiner, als Partygirl für die Lagerbosse, und dann, später, die Kinder waren schon ein bisschen älter, als fleißige Besucherin der Luxusfeste, die die Expats in Nairobi jedes Wochenende gefeiert haben. Mein Bruder hat mir versichert, dass er es war, der aus dir eine gute Frau gemacht hat. Also spiele hier nicht die verschleierte und gekränkte Heilige, das bist du nämlich nicht. Mein Bruder war kein Idiot, meinen Eltern hat er das natürlich nicht erzählt. Aber mir, weil wir uns näherstanden, als es nach außen den Anschein hatte.«
»Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen«, sagt Gacalo zu Timiro.
»Wir gehen, wenn ich fertig bin, Mama.«
Gacalo verstummt, und Timiro fährt fort. »Du hattest nie eine richtige Arbeit, bis du meinen Bruder getroffen und geheiratet hast.«
»Das stimmt.«
»Dann hast du dank der Überweisungen meiner Mutter an meinen Bruder gut zwei Jahre in relativem Wohlstand in Nairobi gelebt.«
»Das stimmt.«
»Du bist jetzt die Witwe meines Bruders in einem Land, das dir und deinen Kindern Zuflucht gewährt hat. Eure Asylanträge sind noch nicht anerkannt, also hast du keinen Anspruch auf die staatlichen Sozialleistungen, auf die Flüchtlinge Anspruch haben. Jedenfalls nicht sofort. Sag mir eins: Wie sieht dein Plan aus? Willst du dich für die Erwachsenenkurse einschreiben, die in Oslo angeboten werden?«
»Ich bin zu alt, um noch zu studieren.«
»Was dann? Willst du dir einen Job suchen?«
»Hängt davon ab, ob es überhaupt welche gibt.«
»Meine Mutter ist viel älter als du, und sie arbeitet noch. Auch ich arbeite jeden Tag der Woche. Noch mal die Frage: Wirst du dir Arbeit suchen?«
»Ich habe nichts gelernt. Ich kann nicht arbeiten.«
»Du kannst als Verkäuferin in einem Supermarkt arbeiten oder als Pflegerin in einem Altenheim.«
»Das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Für diese Art von Arbeit bin ich nicht geeignet.«
»Was meinst du damit? Diese Art von Arbeit?«
»Ich kann nicht arbeiten, wo man Alkohol verkauft«, sagt Waliya. »Und auch nicht da, wo ich mich um die natürlichen Bedürfnisse von alten Männern kümmern müsste.«
»Würdest du als Geschirrspülerin arbeiten?«
»Ich bin immer Hausfrau gewesen.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt. Und wir wissen das auch«, sagt Timiro. »Mein Bruder hat mir erzählt, dass es Zeiten gab, wo du nach Einbruch der Dunkelheit das Haus verlassen hast und erst im Morgengrauen zurückgekommen bist. Mit den Taschen voller Geld. Wir verlangen nicht, dass du etwas derart Entwürdigendes machst. Aber was ist falsch daran, wenn du die Hälfte dessen beisteuerst, was meine Mutter für dich und deine Kinder ausgibt? Bis eure Aufenthaltsbewilligung durch ist? Dann ist gesichert, dass deine Kinder Anspruch auf staatliche Hilfe haben.«
Gacalo schaltet sich wieder ein. »Keine Sorge, mein Schatz. Das Geld, das ich zur Seite gelegt habe, reicht für ein Jahr.«
»Trotzdem, das ist das Geld der Familie, nicht ihrs.«
Waliya schweigt weiter ungerührt.
»Als ich in New York für mein zweites Examen gelernt habe«, sagt Timiro, »da habe ich nebenher Geschirr gespült und anderer Leute Toiletten sauber gemacht. Ich habe es auch mit den natürlichen Bedürfnissen von alten Männern zu tun bekommen, wenn ich sie gebadet und ihre verschmutzten Bettlaken gewechselt habe, um mich über Wasser zu halten. Wenn ich, die Tochter eines Botschafters und einer hohen Verwaltungsangestellten im norwegischen Staatsdienst, mir nicht zu schade war, solche Arbeiten anzunehmen, warum kannst du das nicht?«
Waliya schweigt immer noch.
»Ich sehe schon, du willst über dieses Thema nicht sprechen«, sagt Timiro. »Bist du wenigstens bereit, mir etwas über den Tod von Dhaqaneh zu sagen?«
»Wir waren uns einig, nicht darüber zu sprechen«, sagt Gacalo entsetzt.
»Mama, er ist tot. Sie lebt, und ich will mehr darüber wissen. Ich habe das Recht, ihr diese Fragen zu stellen. Und ich habe das Recht, Antworten zu verlangen.«
»Was willst du wissen?«, sagt Waliya.
»Was hast du von dem Selbstmordattentat gewusst, das sein Leben beendet hat? Und wie warst du daran beteiligt? Ich habe gehört, für den Anschlag warst du vorgesehen, hast dich aber geweigert, weil du die Kinder nicht ohne Mutter zurücklassen wolltest. Also hat er es getan. Entspricht irgendetwas daran der Wahrheit?«
»Nein, nichts davon ist wahr«, sagt Waliya.
»Hast du mehrere Tage lang den Bombengürtel für ihn versteckt, und hast du ihm dann, weil er die Anweisungen für die Handhabung nicht finden konnte, gezeigt, wie er die Explosion auslösen musste?«
»Ich hatte nichts mit dem Bombengürtel zu tun.«
»Noch eine letzte Frage.«
»Na los.«
»Gehörst du zu einer dschihadistischen Terrorzelle, die in Europa operiert?«, fragt Timiro.
»Ich bin eine Witwe mit zwei Kindern.«
Dann herrscht lange Stille.
Waliya bricht das Schweigen. »Kein Wunder, dass Dhaqaneh nie ein gutes Wort für dich übrighatte.« Dann entschuldigt sie sich. »Ich brauche nur eine Minute.« Sie geht aus dem Zimmer und kommt nicht zurück. Schließlich verlassen Gacalo und Timiro schweigend die Wohnung.
Aufgewühlt fahren die beiden Frauen nach Hause. Im Flüsterton stößt Timiro alle Arten von Flüchen aus, bis Gacalo sie schließlich unterbricht. »Warum hast du nie etwas davon erzählt?«
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