»Und was passiert, wenn es nur eine Tür gibt? Wie regeln sie dann das Kommen und Gehen?«
»Tja, wenn es nur einen Eingang gibt, so wie hier, dann darf nur ein Mann einen Fremden hereinlassen.«
»Schrecklich«, sagt Timiro.
»Du darfst eins nicht vergessen«, sagt Gacalo. »Zum ersten Mal gibt es Millionen von Muslimen, die mit anderen Religionen in Berührung kommen. Es ist in Mode gekommen, von der Bewahrung der islamischen Kultur in ihrer reinsten Form zu reden. Deshalb haben sich immer mehr Muslime für den wahhabatischen Weg des konservativen Islam entschieden. Und nach deren Regeln dürfen sich die Geschlechter nicht vermischen und müssen Frauen einen männlichen Beschützer haben.«
»Glaubt Naciim deshalb, dass er der Obermacker ist? Weil einige Scheichs behaupten, dass das der wahre Islam ist?«
»Ja. Der konservative Islam schreibt vor, dass weder Waliya noch Saafi uns die Tür öffnen dürfen, wenn Naciim, der Ersatzbeschützer, nicht im Haus ist.«
»Das ist nicht zu fassen«, sagt Timiro.
Der Lift kommt und kommt nicht. Timiro drückt permanent auf den Knopf und flucht. Gacalo hingegen behält die Wohnungstür im Auge und hofft, sie möge sich doch noch öffnen.
»Ich kann Waliyas Vorsicht verstehen«, sagt Gacalo. »Ihre Tochter ist vergewaltigt worden. Außerdem haben in letzter Zeit Männer, die so alt sind wie dein Vater, in vielen Gegenden Somalias Mädchen geheiratet, die noch jünger sind als Saafi.«
Timiro ist sauer, dass der Aufzug nicht kommt. Erst tritt sie gegen die Lifttür und dann gegen die Tür von Waliyas Wohnung. Ein paar Sekunden später öffnet sich die Tür, und Naciim steht vor ihnen. Er entschuldigt sich. »Ich stand unter der Dusche, ich hatte keine Ahnung, dass ihr da seid. Erst den Krach habe ich gehört.«
Der Junge ist sichtlich überrascht. Er freut sich so, Gacalo zu sehen und Timiro kennenzulernen, dass er anscheinend nicht weiß, was tun: Soll er ihnen die Hand schütteln, oder soll er warten, ob sie ihn einer Umarmung für würdig befinden. Dann bemerkt Gacalo ein leichtes Stirnrunzeln bei ihm. Kann es sein, dass er sich darüber klarzuwerden versucht, wie wohl seine Mutter auf Timiro reagieren wird, die wie eine Norwegerin gekleidet ist, nicht wie eine Somali?
Kurz darauf breitet sich auf Naciims Gesicht ein Lächeln aus, und er sagt, wie er sehr er sich freut, Tante Timiros Bekanntschaft zu machen. Aber zu Gacalos Ärger schleudert Timiro dem Jungen ihren ganzen Zorn ins Gesicht. »Wir haben uns die Finger wund geklopft, warum hast du uns so lange warten lassen?«
Als zusätzliche Beleidigung ignoriert sie seine ausgestreckte Hand und geht, Zornesfalten im Gesicht, an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf die Couch und schaut sich um, mustert die kahlen Wände, die beiden zerschlissenen Läufer, das billige Mobilar, die leere Tüte Kartoffelchips und die nackten Glühbirnen an der Decke. Eine hängt direkt über ihrem Kopf.
»Sag deiner Mutter, dass Besuch da ist«, sagt Gacalo zu Naciim.
Sekunden später ist Naciim wieder zurück und setzt sich in einen Sessel. »Ich habe ihnen gesagt, dass ihr da seid.«
Immer noch ärgerlich sagt Timiro: »Da ist etwas, das ich nicht verstehe.«
»Liebling, lass ihn.«
»Erkläre mir bitte, wer dich als einzige Person dazu ausersehen hat, hier die Tür zu öffnen?«, fragt sie ihn.
»Als einziger Mann im Haushalt ist es meine Aufgabe, die Frauen vor allem zu bewahren, was den Namen der Familie entehren könnte«, sagt er. »Das ist der rechte Weg, der islamische Weg.«
»Wie beschützt du sie?«
»Ich entscheide, wer die Wohnung betritt und wer nicht.«
Naciim denkt an den Grundsatz, den sein Vater ihm eingebläut hat: dass in seiner Abwesenheit er, Naciim, der Mahram seiner Mutter und seiner Schwester sei und deshalb ihr Oberhaupt.
Schließlich bewegt sich die Tür zum angrenzenden Zimmer, und Saafi taucht auf. Ein zartes, liebliches und puppenartiges Wesen, makellos gekleidet und nur dezent mit einem Kopftuch verschleiert. Sie berührt mit den Lippen Gacalos und Timiros Hände und setzt sich dann auf den am weitesten von den beiden Frauen entfernten Stuhl, die Beine zusammen, die Füße geradeaus, die Hände im Schoß. Das Mädchen ist mit einer atemberaubenden Schönheit und verführerischen Augen gesegnet. Ein Jammer, denkt Timiro, dass sie ihre Schönheit vor der Welt verbergen muss.
In der Zwischenzeit tritt Waliya in den Raum. Ihr ist bewusst, wie wichtig es ist, beim ersten Zusammentreffen mit der Schwägerin einen guten Eindruck zu machen. Obwohl sie etwas rundlich um die Hüfte ist, bewegt sie sich elegant. Der Schleier ist aus hauchdünnem, dunklem Material mit einem schmalen Schlitz für die Augen. Ihr Blick fordert, oder besser beharrt auf raffinierte Weise darauf, dass man sie ein zweites Mal anschaut. Sie ist barfuß. Während sie weiter in den Raum hineingeht, in dem alle verstummt sind, richtet sie ein paar bewusst bezaubernde Worte an Gacalo. Sie bleibt mit etwas Abstand vor Timiro stehen, senkt den Kopf und heißt sie mit einigen geflüsterten Worten willkommen.
Waliya und Timiro mustern sich von Kopf bis Fuß, sagen aber lange Zeit kein Wort. Waliya setzt sich ebenfalls auf einen Stuhl, der weit von Timiro entfernt ist.
»Was darf ich euch anbieten? Einen Tee?«, fragt sie.
»Ich kann auch Kaffee machen«, sagt Saafi.
»Wir wollten nur kurz schauen, wie es euch geht«, sagt Gacalo. »Vielleicht wollt ihr zu uns zum Essen kommen?«
»Wir kommen bestens zurecht«, sagt Waliya.
»Der Herd funktioniert? Ihr könnt euch was kochen?«
»Naciim hat herausgefunden, wie er funktioniert. Er gibt nicht nach, bis er weiß, wie etwas funktioniert. Ob ein Herd oder Kühlschrank oder Handy. Dhaqaneh hat ihm viel beigebracht.«
Während sie spricht, behält sie auch Naciim aufmerksam im Auge. Schließlich hat sie genug davon, wie er Timiro angafft. »Was sitzt du hier bei den Frauen?«, sagt sie zu ihm. »Bitte geh in dein Zimmer und lern die Verse, die dein Koranlehrer dir aufgegeben hat.«
»Ja, Mutter«, sagt er mürrisch und steht auf.
Sie sei beeindruckt, sagt Gacalo zu Waliya, dass sie einen Lehrer gefunden habe, der dem Jungen Koranunterricht erteilt.
Timiro verfolgt das Gespräch genau, schaut jetzt zu Saafi und dann zu Waliya. »Da wir schon beim Thema sind«, sagt sie. »Ich würde gern etwas mehr über die Erziehung von Saafi und Naciim erfahren.«
»Saafi ist zu Hause unterrichtet worden«, sagt Waliya. »Wir haben sie von der staatlichen Schule in Kenia abgemeldet.«
Timiro kann nicht umhin, Waliya direkt zu fragen. »Willst du uns damit sagen, dass du deine Tochter zu Hause behalten hast und sie nicht zusammen mit den anderen Kindern in die Schule des Flüchtlingslagers geschickt hast?«
»Das habe ich nicht gesagt«, sagt Waliya.
»Was hast du dann gesagt?«
Weil Waliya nicht sofort antwortet, greift Gacalo ein und blockt die Forderung ihrer Tochter nach einer genaueren Erklärung Waliyas ab. »Das reicht erst mal, Timiro«, sagt sie und wendet sich an Waliya. »Und was ist mit Naciim?«
Timiros Fragen machen Waliya wütend, deshalb schlägt sie einen anderen Kurs ein. Sie wirft Saafi einen flehentlichen Blick zu, dass sie doch die Frage über ihren Bruder beantworten möge. Saafi gehorcht. »Er ist zwölf Jahre alt und geht in die siebte Klasse.«
»Lass mich meine Frage wiederholen: Welche Art von Erziehung möchtest du hier in Norwegen für deine Kinder?«
Waliya macht Saafi ein Zeichen, dass sie das Zimmer verlassen soll.
»Ich möchte eine gute Erziehung für beide Kinder, und wir nehmen gern jede Hilfe an«, sagt Waliya. »Am wichtigsten ist mir, dass sie die heilige Sprache des Propheten und des Koran erlernen und dann Unterricht in islamischer Theologie erhalten.«
»Ich fürchte«, erwidert Timiro, »dass du für die Art ›guter Erziehung‹ im falschen Land bist.«
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