Inzwischen ist das drängende Gefühl stärker geworden, das sich in den sumpfigen Wäldern ein oder zwei Meilen hinter der Grenze eingestellt hat, dort, wo die Bäume auf die feuchten Kanäle voller schwarzem Wasser stoßen. Dort hast du früher häufig Bärenspuren gesehen, und irgendetwas raschelte im Dunkeln und wird durch die Bäume verdeckt.
Whitby schweigt meistens, aber wenn er etwas sagt, tragen seine Fragen und Befürchtungen nicht dazu bei, den Eindruck eines ewigen und unvergänglichen Plans zu vertreiben, nach dem dieser Landstrich okkupiert worden ist. Die bewegungslosen, schweigenden Gewässer, die beklemmende Schwärze eines Himmels, aus dem das Blau nur in erschreckenden Abständen durch die Bäume schimmert, nur um gleich wieder zu verschwinden, und sowieso immer von irgendwo sehr weit her zu kommen scheint. Ist das hier die Lichtung, auf der die drei Männer der fünften Expedition starben? Hat dieser Teich die Körper der Männer und Frauen der achten geschluckt? Manchmal schreckt Whitbys schreckensbleiches Flüstern dich auf, ist wie eingewoben in diese Erinnerungen, die alles zu überlagern scheinen, ein untrennbares Echo der vergangenen letzten Tage.
Schließlich erreichst du eine Landschaft, die freundlicher wirkt, an die du dich gewöhnen kannst, wo Vergangenheit und Gegenwart wieder miteinander verschmelzen. Hier trennt ein breiterer Weg die feuchten Sumpfwälder von offenem Land und gibt dir deinen Horizont zurück, den ein paar wenige hohe Kiefern zwischen dem Steppengras und Ringen aus Palmen bilden. Der Wald und die Düsternis wirken wie abgeschnitten und werfen einen scharfkantigen Schatten über die Hälfte des Weges.
Es gibt noch andere Grenzen innerhalb von Area X, andere Herausforderungen, und du hast gerade mal eine gemeistert, um zur topografischen Anomalie zu gelangen.
Dort angekommen, ist dir sofort klar, dass der Turm nicht gemauert ist – und Whitby merkt das auch. Sein Gesichtsausdruck ist undurchdringlich, aber wünschte er sich jetzt, von dir konditioniert worden zu sein, das ganze Training durchlaufen zu haben, das Central zur Verfügung stellt, nicht nur deine Halbheiten und lausige Hypnose.
Der Turm atmet. Das steht völlig außer Frage: Das Fleisch der kreisförmigen Oberseite der Anomalie hebt und senkt sich im regelmäßigen Rhythmus eines Wesens, das tief und fest schläft. In keinem der Berichte wird dieser Umstand erwähnt; darauf bist du nicht vorbereitet, gewöhnst dich aber schnell daran, kannst dir sogar schon vorstellen, hinabzusteigen, auch wenn ein Teil von dir immer noch in heller Aufregung ist und sich aufbäumt angesichts der Dummheit deiner Entscheidung.
Wird er aufwachen, während du drinnen bist?
Die Öffnung, durch die es hinab ins Dunkel geht, ähnelt mehr einem Schlund als einem Durchgang, das Gestrüpp ist beiseitegeschoben und bildet in etwa eine runde Umrahmung, als hätte sich hier irgendwann einmal eine Schlange eingeringelt, um die Öffnung zu beschützen. Die Stufen wirken wie eine Ansammlung schiefer Zähne, die Luft von unten riecht kräftig nach Verwesung.
»Ich kann da nicht runter«, sagt Whitby mit solcher Entschiedenheit, dass er sicher zu sein scheint, nicht mehr als Whitby zurückzukommen, sollte er dort hineinsteigen. Sein Gesicht wirkt völlig eingefallen, sogar in diesem leuchtenden Spätsommerlicht, als würde er bereits von einer Erinnerung an etwas heimgesucht, das ihm erst noch bevorsteht.
»Dann gehe ich eben«, erklärst du dich bereit – hinab in den Schlund der Bestie. Andere haben das auch getan, wenn auch selten, und sind zurückgekommen, warum nicht auch du? Mit einer Atemmaske, vorsichtshalber.
Erst später wird sie dir durch Mark und Bein gehen, die verstörende Panik, die Schreckhaftigkeit, die von hier an hinter jeder deiner Bewegungen lauert. Noch Monate später wirst du wund und lädiert aufwachen, als könnte dein Körper nicht vergessen, was geschehen ist, und nur auf diese Art das erlebte Trauma ausdrücken.
Drinnen ist es anders, als die bruchstückhaften Berichte früherer Expeditionen erwarten lassen. Das lebende Gewebe der Wand ist fast bewegungslos, das dürftige Irrlichtern der Ranken, die die Worte formen, so langsam, dass du einen Augenblick lang glaubst, es sei totes Gewebe. Die Worte leuchten auch nicht grün, sondern sind von einem schneidenden Blau, fast wie die Spitzen einer Herdflamme. Das Wort inaktiv kommt dir in den Sinn, und mit ihm eine wilde Hoffnung: dass alles, was weiter unten kommt, auch reglos ist, normal, wenn auch im Grenzbereich dessen, was dieses Wort bedeuten kann.
Du bleibst in der Mitte, willst keine Wand berühren, versuchst, den bebenden Atem des Turms zu ignorieren. Du liest die Worte nicht, denn du betrachtest sie schon seit Langem als eine Art Falle, eine Art Ablenkung … und trotzdem verschwindet das Gefühl nicht, dass alles, was dich verwirren und destabilisieren könnte, noch vor dir liegt, und noch nicht entschieden hat, ob es sich zeigt oder doch unsichtbar bleibt – hinter einer Ecke, jenseits des Horizonts, und mit jeder weiteren leeren Laibung, jeder Treppenbiegung, die von der blauen Flamme toter Worte beleuchtet wird; auf dem Weg ins Unbekannte wirst du zaghafter, steigt der Grad deiner Verletzung, obwohl nichts zu sehen ist. Wie die Hölle, eine Hölle aus nichts, die sich anfühlt wie jeder Augenblick deines Lebens in Southern Reach – grundlos hinabsteigen, vergebens, nur um nichts zu finden. Keine Antwort, keine Lösung, kein Ende in Sicht, die Worte an den Wänden nicht frischer, nur dunkler, scheinen zu welken, wenn du dich näherst … bis, schließlich, du weit, weit unten ein Licht aufblinken siehst – so weit unten, dass es wie eine strahlende Blume in einem Loch auf dem Grund des Ozeans ist, ein flimmerndes, kaum fassbares Licht, das wie durch den Trick eines Magiers gleichzeitig direkt vor deinem Gesicht zu schweben scheint und dir die Illusion gibt, dass du nur die Hand ausstrecken musst, um es berühren zu können; falls du den Mut dazu findest.
Aber nicht das lässt deine Knie weich werden, einen Blutschwall durch dein Gehirn jagen.
An der linken Wand sitzt zur Seite gesunken eine Gestalt und starrt die Treppenstufen hinab.
Eine Gestalt mit gebeugtem und von dir abgewandtem Kopf.
Ein Prickeln zieht sich über deinen Kopf unter der Maske, als würden eine Million kalter Nadeln sanft und nahtlos, ja geradezu schmerzlos hineingesteckt werden, so ungemein beiläufig und unsichtbar, dass du dir einbilden kannst, es sei einfach ein Hitzeschauer, eine Spannung der Haut um die Nase, die Augen, das sanfte Versenken der Nadeln in ein Nadelkissen, die Rückkehr von etwas, das schon immer dort hingehört.
Du versicherst dir selbst, dass dies ebenso real oder irreal ist wie Bowling bei Chipper’s, wie das Nilpferd mit der roten Farbe unter der Haut, wie in Bleakersville zu leben und in Southern Reach zu arbeiten. Dass dieser Augenblick genau wie jeder andere ist, dass es für die Atome keinen Unterschied macht, für die Luft, für das Wesen, dessen Wände um dich herum atmen. Dass du mit dem Betreten von Area X das Recht verwirkt hast, irgendetwas als unmöglich zu bezeichnen.
Du gehst näher heran, angezogen von diesem unmöglichen Ding, und setzt dich daneben auf die Stufe.
Die Augen sind geschlossen. Das Gesicht ist von einem tiefen blauen Schimmer erhellt, der von innen kommt, als hätte etwas die Macht über seine Haut ergriffen, und er ist so porös wie Tuff. Er ist mit der Wand verschmolzen, oder ragt aus ihr heraus, wie eine Erweiterung der Wand, etwas, das hervorsteht, aber jeden Augenblick wieder hineingezogen werden könnte.
»Bist du wirklich?«, fragst du, aber er gibt keine Antwort.
Du streckst eine bebende Hand aus, von Ehrfurcht ergriffen vor seiner Erscheinung, willst wissen, wie sich diese Haut anfühlt, selbst wenn du befürchten musst, dass er unter deiner Berührung zu Staub zerfällt. Deine Finger wandern über seine Stirn, die sich rau und feucht anfühlt, wie Sandpapier unter Wasser.
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