»Das kann ich bestimmt«, sagst du, und Grace schaut skeptisch drein.
Aber Whitby ist kein Problem. Whitby ist gierig, er jault wie ein Terrier, der auf einen langen, langen Spaziergang lauert. Whitby will schon seit einer Weile raus aus der Wissenschaftsabteilung. Whitby ist derjenige, der dir den Rücken stärkt, indem er auf die Überlebensquote der letzten Expeditionen verweist. Whitby ist von dieser Chance so animiert, dass du fast vergessen könntest, wie gefährlich das Ganze ist.
Es ist eine große Erleichterung, denn am folgenden Wochenende begreifst du beim Small Talk mit der Immobilienmaklerin, dass die Vorstellung, alleine zu gehen, dir Angst gemacht hat. Begreifst, während du dem Footballspiel im Fernseher unter dem löchrigen und rostenden Firmament der Bar folgst, dass du das ganze Unternehmen vielleicht abgesagt hättest, wenn Whitby nicht Ja gesagt hätte.
Nachdem du das Tor durchschritten hast, fühlst du eine Art Druck, der dich niederpresst, siehst einen schwarzen Horizont voller Sternschnuppen, deren Schweife so voll und weit über den Nicht-Himmel leuchten, dass du beim Anblick dieser Fackeln eines himmlischen Brandstifters blinzeln musst. Ein Schwanken, ein Schwindel, aber jedes Mal, wenn du zu sehr nach der einen oder anderen Seite taumelst, stupst dich etwas zurück in die Mitte, als würden die Ränder näher sein, als es scheint, sich zu einem steilen Winkel aufrollen. Deine Gedanken schwirren hin und her, und zwischen ihnen blitzt etwas Unbekanntes auf, das du nicht identifizieren kannst. Du willst aufhören, zu gehen, einfach nur dort stehen bleiben, in diesem Korridor zwischen der realen Welt und Area X, für immer.
Derweil schlurft der hypnotisierte Whitby mit geschlossenen Augen weiter, über sein Gesicht zucken Ticks wie ein Gewitter, als hätte er intensive Träume. Was immer ihm im Kopf herumspukt, du hast dafür gesorgt, dass er nicht verloren geht, nicht einfach während des Transits stehen bleibt. Du hast ihm eine Nylonschnur um die Handgelenke und diese an dich gebunden, und so stolpert er hinter dir her.
Dass Whitby lahm wie eine Schnecke ist, bereitet dich auf das vor, was als Nächstes kommt, das Gefühl, durch hüfthohes Wasser zu waten, der Widerstand, der bedeutet, dass es nicht mehr lange dauert, ein Hinweis auf das intensive, wirbelnde Lichttor weit vor dir, und es wird auch Zeit, denn bei all deinem stoischen Schreiten beginnt Whitbys Traumzeit auch auf dich überzugreifen, macht dich glauben, dass Dinge in dich hineinsehen. Du verlierst jedes Gefühl dafür, wo du bist, egal in Bezug worauf, sogar in Bezug auf deinen Körper … Bewegst du dich wirklich vorwärts, oder stehst du still und nur dein Gehirn glaubt, dass du die Füße hebst, sie wieder senkst, und wieder hebst?
Bis dann der Widerstand plötzlich wegfällt und ihr beide durch das Tor und hinaus nach Area X taumelt. Whitby fällt vornüber, umarmt den Boden, zittert in Krämpfen und du ziehst ihn hoch und vom Tor weg, damit er nicht versehentlich in die falsche Richtung taumelt und für immer verschwindet. Er schnappt nach Luft, ihr beide schnappt nach Luft, die so frisch ist, dass ihr euch erst daran gewöhnen müsst.
Und was für ein blauer, wolkenloser Himmel. Ein Weg, den du kennen müsstest, aber es ist schon Jahrzehnte her, dass du zuletzt an der vergessenen Küste warst. Es wird noch eine Weile dauern, bis du dich wieder wie zu Hause fühlst. Du kennst den Weg mehr von Fotos und den Berichten der Expeditionsteilnehmer, weißt, dass er schon vor den ersten Eindringlingen hier entlangführte, und er hat sogar überlebt, wenn auch überwachsen, als Teil von Area X.
»Kannst du gehen?«, fragst du Whitby, nachdem du ihn wieder zur Besinnung gebracht hast.
»Natürlich kann ich gehen.« Voller Begeisterung, die doch ein wenig brüchig klingt, als hätte unterschwellig bereits etwas daran genagt.
Du fragst ihn nicht, was er geträumt, was er gesehen hat. Du willst es nicht wissen, bis ihr wieder zurück und auf der anderen Seite seid.
Du hast dir die unter Verschluss gehaltenen Videoclips der zum Untergang verurteilten ersten Expedition noch einmal angesehen, nicht um Antworten zu finden, sondern um nach einer Verbindung mit der Wildnis zu suchen, die du als Kind gekannt hast. Um deinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, dich an etwas zu erinnern, was verschüttet war – ohne auf die Schreie zu achten, die Verwirrung, die Verständnislosigkeit, auf Lowrys Tränen und die Dunkelheit.
Dort drüben kannst du die Reihen der Felsblöcke am Leuchtturm erkennen, bereits leicht verändert, als ließe sich Whitbys Terroir schon an den Mustern festmachen, die die Brandung in den Sand schreibt. Als ob dort unten, zwischen all den Sandkrebslöchern und winzigen Muscheln, die sich gleich wieder eingraben, wenn eine Welle sie freigespült hat, irgendeine Probe sämtliche Antworten bereithalten würde.
Und auch die Wege: eine düstere Stille zwischen den Kiefern und im dichten Unterholz, das von wenigen Flecken blassen Lichts marmoriert wird. Deine eigene Erinnerung, im Alter von sechs Jahren durch einen Sturm orientierungslos und verloren aus dem Wald zu kommen und nicht zu wissen, wo du bist – wieder hochgeholt durch die behutsame, stille Art, mit der der Expeditionsleiter auf drohend heraufziehende Wolken hinweist, als würden die mehr ankündigen als die Notwendigkeit, einen Unterschlupf zu suchen.
Nach dem Sturm sind Sonne und Landschaft wie eine Offenbarung, und dann siehst du dich einem riesigen Alligator gegenüber, der den engen Weg versperrt, der rechts und links von Wasser gesäumt ist. Du nimmst Anlauf und springst einfach darüber hinweg. Du hast deiner Mutter nie von diesem Hochgefühl erzählt, und wie du es mitten im Sprung gewagt hast, nach unten zu sehen und in das gelbe Auge zu starren, die dunkle vertikale Pupille, ein abschätzender Blick, der dich verschlingt, so wie Area X die erste Expedition verschlungen hat, und dann bist du drüber und weg und läufst und läufst aus purer Freude – pures Adrenalin, als hättest du gerade die ganze Welt erobert.
In den Videos laufen sie zum Ende hin vor etwas weg, nicht auf etwas zu, und die Schreie verkünden keinen Triumph, sondern eine Niederlage – müde Schreie, die vom Überdruss eines Kampfes mit einem Gegner künden, der sich nicht richtig zeigt. In deinen zynischeren Momenten hast du gedacht, dass es routinemäßige Schreie sind: die eines Individuums, das weiß, dass es keinen Sinn macht zu kämpfen, der Körper kapituliert und der Kopf lässt das zu. Sie waren anders verloren als du an diesem Tag; sie hatten kein Haus am Meer, in das sie zurückkehren konnten, keine Mutter, die außer sich vor Sorge auf der Veranda hin und her tigerte und glücklich war, als du nass bis auf die Knochen und verdreckt wiederaufgetaucht bist.
Etwas auf deinem Gesicht muss das Hochgefühl noch widergespiegelt haben, denn sie hat nicht mir dir geschimpft, hat dich nur in trockene Sachen gesteckt und dir Essen gemacht und keine Fragen gestellt.
Du gehst am Abzweig zum Basislager vorbei und direkt in Richtung topografische Anomalie, denn du hast das Gefühl, dass die Zeit drängt – irgendwo tickt eine Uhr. Du hast nie mit Whitby darüber gesprochen, aber je länger man sich hier aufhält, je länger man hier herumtrödelt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe. Das Alligatorauge starrt dich an, und hinter dem starren Blick scheint es mehr Bewusstsein zu geben, als du in Erinnerung hast. Irgendjemand außerhalb des Blickwinkels der Kamera sagt am zweiten Tag der ersten Expedition: »Ich will nach Hause«, und Lowry albert völlig selbstgewiss herum: »Was meinst du damit? Das hier ist jetzt unser Zuhause. Wir haben hier doch alles. Alles, was wir brauchen. Oder nicht?«
Читать дальше