JEFF VANDERMEER
Band 3 der Southern-Reach-Trilogie
Aus dem Englischen von Michael Kellner
Verlag Antje Kunstmann
Für Ann
Gleich hinter dir, aber doch außer Reichweite: das Rauschen und Schäumen der Brandung, der scharfe Atem der See, das Hin und Her der Möwen, ihr jähes, schrilles Kreischen. Ein gewöhnlicher Tag in Area X, ein außergewöhnlicher Tag – der Tag, an dem du stirbst –, und du liegst einfach da, halb aufgerichtet auf einem Haufen Sand, im Schutz eines bröckelnden Walls. Die warme Sonne auf deinem Gesicht, und der schwindelerregende Blick auf den Leuchtturm, der in seinem eigenen Schatten hoch über dir aufragt. Der Himmel ein überwältigendes blaues Gefängnis, sonst nichts. Auf der Wunde an deiner Stirn klebt glitzernder Sand; aus deinem Mund tropft ein kehliges, streng riechendes Irgendwas .
Du bist wie betäubt und fühlst dich zerstört, aber in das Bedauern mischt sich eine merkwürdige Erleichterung: So weit musstest du gehen, um jetzt hier zu enden, ohne zu wissen, wie es ausgehen wird, und trotzdem … zu ruhen. Zur Ruhe zu kommen. Endgültig. All deine Pläne in Southern Reach, die quälende und ständige Angst vor dem Scheitern oder Schlimmerem, dem Preis, den man zahlt … all das sickert jetzt in grieseligen roten Perlen aus dir heraus in den Sand.
Die Landschaft bricht in Wellen über dich herein, schwappt von hinten über dich, um dich anzustarren; hier und da lodert sie auf, wabert oder zieht sich auf Stecknadelkopfgröße zusammen, um dann wieder ins Blickfeld zu rücken. Auch dein Gehör ist nicht mehr das, was es mal war – hat wie dein Gleichgewichtssinn nachgelassen. Und dennoch bemerkst du nun etwas völlig Unmögliches: Aus der Landschaft erheben sich wie von Zauberhand eine Stimme und ein paar Augen, die dich anschauen. Das Flüstern klingt vertraut: Hast du dein Haus bestellt? Aber wer immer das sein mag, denkst du, es kann nur ein Fremder sein, und ignorierst es, denn was immer da bei dir anklopft, du magst es nicht.
Viel schlimmer ist das Pochen in deiner Schulter von der Begegnung im Turm. Die Wunde hat dich getäuscht, betrogen, führte dazu, dass du hinaus in die lodernde blaue Weite gesprungen bist, obwohl du es gar nicht wolltest. Irgendeine Verbindung zwischen der Wunde und der Flamme, die durch das Röhricht Richtung Leuchtturm tanzte, hat das ausgelöst und deine Souveränität untergraben. Dein Haus war niemals weniger bestellt, und doch bist du sicher, dass irgendetwas anderes zurückbleibt, wenn in ein paar Minuten Was-auch-immer dich verlassen wird. In Himmel, Erde, Wasser aufzugehen ist hier keine Garantie dafür, tot zu sein.
Ein Schatten schiebt sich unter den Schatten des Leuchtturms.
Gleich darauf ein Knirschen von Stiefeln, und völlig von Sinnen schreist du: »Auslöschung! Auslöschung!«, versuchst dich aufzurichten, bis du begreifst, dass dieses Gespenst, das da vor dir kniet, die einzige Person ist, die immun gegen Hypnosebefehle ist.
»Ich bin’s bloß, die Biologin.«
Bloß du . Bloß die Biologin. Bloß deine aufsässige Geheimwaffe, mit der du die Wälle von Area X attackieren wolltest.
Sie stützt dich, presst eine Wasserflasche an deinen Mund, wischt Blut weg, das du ausgehustet hast.
»Wo ist die Vermesserin?«, fragst du.
»Im Basislager«, antwortet sie.
»Wollte nicht mir dir kommen?« Angst vor der Biologin, Angst vor der weiter um sich greifenden Flamme, wie bei dir. »Eine Flamme, die über die Salzmarschen waberte und durch das zerstörte Dorf. Eine lodernde Flamme, ein Irrlicht, das durch die Marschen und über die Dünen treibt, weiter und weiter, etwas Nicht-menschliches, aber frei und dahintreibend.« Ein Hypnosebefehl, der sie beruhigen soll, auch wenn er nicht mehr Wirkung auf sie hat als ein Kinderreim.
Das Gespräch geht weiter und du merkst, wie du schwächer wirst, den Überblick verlierst. Du sagst Dinge, die du so nicht meinst, versuchst, du selbst zu bleiben – jedenfalls die Person, die die Biologin kennt, das Konstrukt, das du für sie aufgebaut hast. Vielleicht solltest du dir keine Gedanken mehr darum machen, aber eine Rolle gibt es immer noch zu spielen.
Sie macht dir Vorwürfe, doch das kannst du ihr nicht verdenken. »Es war ein Desaster, das du selbst mit angerichtet hast. Du bist in Panik verfallen und hast aufgegeben.« Stimmt nicht – ich habe nie aufgegeben –, aber du nickst trotzdem, angesichts so vieler Fehler. »Habe ich. Habe ich. Ich hätte früher bemerken sollen, dass du dich verändert hattest.« Stimmt. »Ich hätte dich zurück zur Grenze schicken sollen.« Stimmt nicht. »Ich hätte nicht mit der Anthropologin da hinuntergehen sollen.« Stimmt nicht, eigentlich. Aber du hattest keine Wahl, nachdem sie sich aus dem Basislager gestohlen hatte, fest entschlossen, sich selbst Gewissheit zu verschaffen.
Du hustest mehr Blut aus, aber inzwischen spielt das keine Rolle mehr.
»Wie sieht die Grenze aus?« Eine kindische Frage. Eine Frage, deren Antwort bedeutungslos ist. Es gibt überhaupt nur Grenze. Es gibt keine Grenze.
Ich werd’s dir sagen, wenn ich dort bin.
»Was passiert wirklich, wenn wir sie überqueren?«
Nicht das, was du dir vielleicht vorstellst.
»Was hast du uns über Area X verschwiegen?«
Nichts, was dir wirklich weitergeholfen hätte. Nicht wirklich.
Die Sonne ist nur noch ein schwacher Lichthof ohne Zentrum, und die Stimme der Biologin wird schrill und dann leise, der Sand in deiner geballten Faust ist kalt und heiß zugleich. Die Schmerzen kommen jetzt stoßweise alle paar Sekunden und sind so überwältigend, dass sie schon fast verschwunden zu sein scheinen.
Schließlich merkst du, dass du nicht mehr sprechen kannst. Aber du bist immer noch da, schwach und abwesend, als wärst du ein Kind auf einer Decke an diesem Strand, das einen Hut über die Augen gezogen hat. Das ständige Rollen der Brandung und der Wind von See, der über dich streicht und die Hitze erträglich macht, lassen dich schläfrig werden. Das Gefühl des Windes in deinem Haar ist so fern, als zerzauste er die Gräser auf einem kopfförmigen Felsbrocken.
»Es tut mir leid, aber ich muss das tun«, stellt die Biologin fest, so als würde sie wissen, dass du sie noch immer hören kannst. »Ich habe keine andere Wahl.«
Du fühlst, wie etwas über deine Haut gezogen wird, den kurzen Schnitt, mit dem die Biologin eine Probe der infizierten Schulter nimmt. Wie aus riesiger und unüberbrückbarer Entfernung spürst du ihre Hände, die deine Jackentaschen durchsuchen und vorsichtig den Körper abtasten. Sie findet die versteckte Pistole an der Wade. Sie findet dein Tagebuch. Sie findet den gefühlsduseligen Brief. Was wird sie damit anfangen? Vielleicht wirft sie den Brief ins Meer und die Pistole hinterher. Vielleicht verschwendet sie den Rest ihres Lebens damit, dein Journal zu lesen.
Sie redet immer noch.
»Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Ich bin wütend. Du hast uns hierhergebracht, und du hattest die Möglichkeit mir zu sagen, was du weißt, und hast nichts erzählt. Du wolltest nicht. Ich sollte wohl sagen, ruhe in Frieden, aber das wirst du kaum.«
Und dann ist sie weg, und du vermisst sie, die Präsenz eines menschlichen Körpers an deiner Seite, die perverse Wohltat ihrer Worte, aber du vermisst sie nicht lange, weil du immer schwächer wirst, widerwillig in dieser Landschaft aufgehst wie ein Geist, und aus weiter Ferne hörst du undeutlich eine zarte Musik, und dann ist das Flüstern von vorhin wieder da, und dann löst du dich in den Wind hinein auf. Etwas sehr Fremdartiges hat sich deiner bemächtigt, das man leicht mit den Molekülen der Luft verwechseln könnte, wenn es nicht doch irgendwie handfester wäre, entschlossener. Fröhlicher.
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