»Pfeifen. Nein, das waren keine Pfeifen. Das war etwas anderes.« Eher so wie große Moskitospiralen. Er hatte der Fliegen-Brigade im letzten Sommer erlaubt, die Spiralen für ein paar Monate im Hinterzimmer des Erdgeschosses unterzustellen. Doch wie zum Kuckuck hatte sie das überhaupt mitbekommen?
»Aber wer ist das?«, bohrte sie nach und balancierte wieder auf zwei Felsblöcken; was hieß, dass Saul durchatmen konnte.
»Sie kommen von der Insel weiter oben an der Küste.« Was stimmte – sie hatten ihre Basis auf Failure Island; dort gab es Dutzende von ihnen, ein richtiger Karnickelstall. »Ein Testgelände«, wie in der Gerüchteküche der Bar im Dorf gemunkelt wurde, und dort wusste man eine gute Geschichte wirklich zu schätzen. Privatforscher, die mit Billigung der Regierung Messungen vornahmen. Aber Teil der Gerüchte war auch, dass die S&S-Brigade noch andere Aufgaben hatte, düsterere. Waren es Ordnungsliebe und Präzision einiger ihrer Mitglieder, oder die Desorganisation anderer, die zu diesen Gerüchten führten? Oder war das nur ein Haufen gelangweilter, betrunkener Rentner, die aus ihren Wohnwagen krochen und Geschichten spannen?
Er wusste einfach nicht, was sie da draußen auf der Insel trieben, oder was sie mit der Ausrüstung im Erdgeschoss vorhatten, ja nicht einmal, was Henry und Suzanne jetzt gerade auf der Spitze des Leuchtturms trieben.
»Sie mögen mich nicht«, sagte Gloria. »Und ich mag sie nicht.«
Er musste schmunzeln, und besonders darüber, wie sie das sagte – so unverfroren und mit verschränkten Armen, als hätte sie gerade beschlossen, dass die beiden ihr unsterblicher Feind seien.
»Lachst du über mich ?«
»Nein«, sagte er. »Nein, tu ich nicht. Aber du bist eine neugierige Person. Du stellst Fragen. Darum können sie dich nicht leiden. Das ist alles.« Leute, die Fragen stellen, waren nicht zwangsläufig davon begeistert, wenn andere ihnen Fragen stellten.
»Was ist falsch daran, Fragen zu stellen?«
»Nichts.« Alles. War die Frage erst einmal gestellt, wurde aus Gewissheit Zweifel. Fragen öffneten das Tor für Unsicherheit. Sein Vater hatte ihm das verraten: »Lass sie keine Fragen stellen. Du hast ihnen doch schon die Antworten gegeben, auch wenn sie es nicht wissen.«
»Aber du bist doch auch neugierig«, sagte sie.
»Wie kommst du darauf?«
»Du bist der Hüter des Lichts. Und Licht sieht alles.«
Vielleicht sah das Licht alles, aber er hatte vergessen, ein paar Dinge zu erledigen, Dinge, die ihn länger vom Leuchtturm fernhalten würden, als ihm lieb war. Er schob die Schubkarre über den Schotter und stellte sie neben den Kombi. Er hatte ein vages, aber dringendes Gefühl, nachschauen zu sollen, was Henry und Suzanne machten. Was, wenn sie die Falltür gefunden und etwas Dummes angestellt hatten, zum Beispiel hinunterfallen und sich ihre merkwürdigen kleinen Hälse brechen? In diesem Augenblick sah er nach oben und sah Henry von dem Geländer hoch über ihm herunterschauen, woraufhin er sich albern vorkam. Als wäre er paranoid. Henry winkte, oder war das eine andere Geste? Benommen vom Gleißen der Sonne und orientierungslos wandte Saul sich ab und senkte den Kopf.
Und da sah er es. Etwas glitzerte ihm vom Rasen entgegen – halb verdeckt von einer Pflanze, die zwischen ein paar Grasbüscheln wuchs, da, wo er vor ein paar Tagen ein totes Eichhörnchen gefunden hatte. Glas? Ein Schlüssel? Die dunkelgrünen Blätter bildeten annähernd einen Kreis, der das, was darunter lag, verbarg. Er kniete nieder, schirmte die Augen mit der Hand ab, aber das glitzernde Ding blieb unter den Blättern verborgen, oder war es Teil eines Blatts? Was immer das sein mochte, es war unermesslich zart, obwohl es ihn widersinnigerweise an die vier Tonnen schwere Linse hoch über seinem Kopf erinnerte.
Die Sonne war eine flüsternde Scheibe in seinem Rücken. Es war wärmer geworden, aber es ging eine leichte Brise, die die Wedel der kleinen Palmen rasseln ließ. Irgendwo hinter ihm war das Mädchen und sang ein albernes Lied; es war schneller von den Felsen heruntergekommen, als er erwartet hatte.
In diesem Augenblick existierte für ihn nichts anderes als die Pflanze und dieses Glitzern, das er nicht genauer bestimmen konnte.
Er trug immer noch die Handschuhe und streckte die Hand nach dem Glitzerding aus, strich über die Blätter. War das eine kleine Lichtspirale, die sich bewegte? Es erinnerte ihn an den Blick in ein Kaleidoskop, mal abgesehen von diesem intensiven Weiß. Aber was auch immer da waberte und glitzerte, es wich seinem Zugriff aus, und er schien kurz davor, ohnmächtig zu werden.
Erschrocken zuckte er zurück.
Aber es war zu spät. Er spürte, wie eine Art Splitter in seinen Daumen eindrang. Es tat nicht weh, nur ein kurzer Druck und dann Taubheit, aber trotzdem sprang er überrascht auf, jaulte und wedelte mit der Hand hin und her. Fieberhaft riss er sich den Handschuh herunter und untersuchte seinen Daumen. Wohl wissend, dass Gloria ihn beobachtete, unsicher, was sie davon halten sollte.
Jetzt glitzerte nichts mehr auf dem Boden vor ihm. Kein Licht am Fuß der Pflanze. Kein schmerzender Daumen.
Langsam beruhigte sich Saul. Kein klopfender Schmerz im Daumen. Kein Einstich, keine Wunde. Er hob den Handschuh auf, untersuchte ihn, fand keine Spuren.
»Stimmt was nicht?«, fragte Gloria. »Bist du gestochen worden?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
Dann spürte er ein weiteres Augenpaar auf sich ruhen, drehte sich um, und da stand Henry. Wie war der bloß so schnell die Treppe heruntergekommen? War mehr Zeit vergangen, als er glaubte?
»Ja – was Schlimmes passiert, Saul?«, fragte Henry, aber Saul sah sich außerstande, die geäußerte Besorgnis im Tonfall der Frage wiederzufinden. Sie klang völlig nüchtern. Von einem merkwürdigen Eifer abgesehen.
»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er beklommen, obwohl er keinen Grund für seine Unruhe sah. »Hab mich nur in den Daumen gestochen.«
»Durch den Handschuh? Das muss aber ein Dorn gewesen sein.« Henry suchte den Boden mit den Augen ab wie jemand, der seine Lieblingsuhr oder ein Portemonnaie voller Geld verloren hatte.
»Mir geht’s gut, Henry. Mach dir um mich keine Sorgen.« Ärgerlich, weil er sich wegen nichts albern aufzuführen schien, aber er wollte auch, dass Henry ihm glaubte. »Vielleicht war es ein elektrischer Schlag.«
»Vielleicht …« Der Schimmer in den Augen des Mannes war wie ein kaltes Leuchtfeuer, das Saul von sehr weit anstrahlte, als würde Henry eine komplett andere Botschaft übermitteln.
»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er wieder.
Nichts Schlimmes.
Tatsächlich?
In Begleitung des mürrischen Controls stieß Ghostbird am dritten Tag in Area X auf das Skelett im Röhricht. Inzwischen war es Winter in Area X, und je weiter sie sich auf dem mäandernden Pfad von der Küste, wo sie angekommen waren, entfernten, umso spürbarer wurde das. Der Wind war kalt und wehte ihnen ins Gesicht, zerrte an ihren Jacken, und der Himmel schien ein graublaues Auge auf sie zu haben, hinter dem sich irgendwelche lebenswichtigen Geheimnisse verbargen. Die Alligatoren, Otter und Bisamratten hatten sich in den Schlamm zurückgezogen, Geister irgendwo im Glucksen und Gurgeln des trüben Wassers.
Hoch oben, wo der Himmel von einem tieferen Blau war, sah sie etwas aufblitzen und erkannte einen Schwarm Störche, der seine Kreise zog; die Sonne glitzerte silbern auf ihren weißen und grauen Federn, während sie sich weit weg immer höher in den Himmel schraubten und mit unerschütterlichem Nachdruck … ja wohin eigentlich unterwegs waren? Sie konnte nicht sagen, ob sie die Grenzen ihres Gefängnisses auszumessen versuchten, ob sie fähig waren, die unsichtbare Grenze zu spüren, bevor sie darauf stießen, oder einfach ihren immer noch funktionierenden Instinkten folgten.
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