Nach oben über die Seen gezogen, hoch über den Marschen aufsteigend, ein grün glänzendes flackerndes Spiegelbild, das vor dem Meer und dem Strand in der Spätnachmittagssonne leuchtet … nur um gleich landeinwärts zu den Zypressen und den schwarzen Gewässern zu kreiseln und zu drehen. Dann wieder scharf hoch hinauf in den Himmel trudelnd und taumelnd Richtung Sonne, bevor der freie Fall einsetzt, jetzt der Erde zugewandt, die rasend schnell näher kommt, mit weiten Schwingen über dem kurzen Aufblitzen sanft wogenden Röhrichts. Fast erwartest du, Lowry dort zu sehen, versehrter Überlebender der weit zurückliegenden ersten Expedition, wie er der Sicherheit der Grenze entgegenkriecht. Aber da ist nur die Biologin, die in zunehmender Dunkelheit auf dem Pfad zurückläuft … und vor ihr wartet, wimmernd vor Pein, der mutierte Psychologe der letzten elften Expedition. Dein Fehler ebenso wie eines jeden anderen, dein Fehler, und unabänderlich. Unentschuldbar.
Der Leuchtturm nähert sich rasch, während du eine weite Kurve beschreibst. Die Luft bebt, während sie an den Flanken des Turms entweicht und sich dann neu sammelt, fragend, drängend, sich hoch aufschwingt, nur um wieder herabzustürzen, und schließlich wie ein Fragezeichen kreiselt und du Zeuge deiner eigenen rituellen Opferung wirst: ein zusammengesunkener Schatten, der Licht verströmt. Was für eine traurige Gestalt, die dort schläft, vergeht. Eine grüne Flamme, ein Zeichen der Pein, eine Chance. Immer noch auf dem Höhenflug? Noch im Sterben oder schon tot? Du kannst es nicht mehr sagen.
Aber das Flüstern ist noch nicht fertig mit dir.
Du bist nicht dort unten.
Du bist hier oben.
Und das Verhör geht immer weiter.
Ein Verhör, das so lange geführt wird, bis du jede Antwort gegeben hast.
TEIL I
0001: DER LEUCHTTURMWÄRTER
Den Linsenapparat überholt und die Linsen geputzt. Die Wasserpumpe im Garten repariert. Kleine Reparatur am Tor. Werkzeuge und Schaufeln etc. im Schuppen geordnet. Besuch vom SSB. Muss Farbe für die Bake anfordern – das Schwarz ist seeseitig erodiert. Brauche auch Nägel und muss die westliche Sirene überprüfen. Gesichtet: Pelikane, Sumpfhühner, eine Art Grasmücke, zahllose Stärlinge, Sanderlinge, eine Königsseeschwalbe, Fischadler, Spechte, Kormorane, Drosseln, Zwergklapperschlange (am Zaun – nicht vergessen), ein oder zwei Kaninchen, Weißwedelhirsch und kurz vor Morgengrauen auf dem Weg das ein oder andere Gürteltier.
An diesem Wintermorgen zerrte ein kalter Wind am Kragen von Saul Evans’ Mantel, während er den Pfad zum Leuchtturm entlangstapfte. In der letzten Nacht hatte es gestürmt, und vor ihm und zur Linken sah er durch raschelndes und knisterndes Plattährengras das aufgewühlte und graue Meer unter einem mattblauen Himmel. Treibholz und Flaschen, verwaschene weiße Bojen und einen toten Hammerhai hatte es im Nachhinein an den Strand gespült, eingewickelt in Seegrasknoten; aber weder hier noch im Dorf waren echte Schäden entstanden.
Seine Füße streiften Brombeerranken und die dicken grauen Disteln, die im Frühjahr und Sommer purpurn erblühten. Schwärme von Stärlingen drückten die dünnen Zweige der Bäume zur Erde, flogen panisch auf, wenn er näher kam, und versammelten sich erneut zu schwatzhaften Gemeinschaften, sobald er vorüber war. In der frischen Salzluft schwang ein Hauch Feuer mit: entweder aus einem der nahegelegenen Häuser oder von einem noch glimmenden Lagerfeuer.
Saul hatte schon vier Jahre im Leuchtturm gewohnt, als er Charlie kennenlernte. Er wohnte noch immer dort, aber letzte Nacht war er im Dorf geblieben, das nicht weit entfernt lag, in Charlies Häuschen. Das war etwas Neues gewesen, das hatten sie so nicht vereinbart, aber als er gerade seine Sachen wieder anziehen und gehen wollte, hatte Charlie ihn zurück ins Bett gezogen. Saul hatte nichts dagegen gehabt, nur etwas unbeholfen gelächelt.
Charlie rührte sich kaum, als Saul aufstand, sich anzog und Eier zum Frühstück machte. Er hinterließ für Charlie eine großzügige Portion samt Orangenschnitz, stellte eine Schüssel darüber, um sie warm zu halten, und legte einen Zettel neben den Toaster; das Brot steckte bereits drin. Beim Gehen warf er noch einmal einen Blick zurück auf den Mann, der dort auf dem Rücken lag und von den Laken nur halb bedeckt wurde. Charlie war schon fast vierzig, hatte aber den durchtrainierten, muskulösen Oberkörper, die breiten Schultern und stämmigen Beine eines Mannes, der einen großen Teil seines Erwachsenenlebens auf Booten verbracht und Netze eingeholt hatte; sein flacher Bauch war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er nicht zu viele Nächte durchzechte.
Die Tür fiel leise ins Schloss, und sobald er ein paar Schritte gemacht hatte, fing er an, wie ein Idiot gegen den Wind zu pfeifen – dankte dem Gott, der ihn schlussendlich doch glücklich gemacht hatte, wenn auch verspätet und auf so unerwartete Art. Manche Dinge widerfuhren einem erst spät, aber besser spät als nie.
Nicht lange, und der Leuchtturm ragte massig und hoch über ihm auf. Tagsüber fungierte er als Bake, als Navigationshilfe für die Boote in den Untiefen, aber die Hälfte der Woche leuchtete er die Nacht hindurch, entsprechend den Fahrplänen der Handelsschiffe weiter draußen auf See. Er kannte jede Treppenstufe, jeden Raum im Inneren der Natur- und Backsteinmauern, jeden Riss in den Wänden.
Das atemberaubende Leuchtfeuer auf der Spitze war einzigartig, und er hatte Hunderte von Möglichkeiten, das Licht zu justieren. Eine Fresnellinse erster Kategorie, über ein Jahrhundert alt.
Als er noch Priester war, glaubte er seinen Frieden gefunden zu haben, seine Berufung, aber erst nachdem er das alles aufgab und ins Exil ging, hatte Saul wirklich das gefunden, wonach er suchte. Er hatte ein gutes Jahr gebraucht, um das zu verstehen: Beim Predigen hatte er etwas nach außen projiziert, hatte sich der Welt aufgedrängt, und die Welt hatte auf ihn zurückprojiziert. Aber sich um den Leuchtturm zu kümmern bedeutete, nach Innen zu schauen, und das fühlte sich weniger anmaßend an. Hier ging es nur um das Praktische, das, was er von seinem Vorgänger gelernt hatte: die Pflege der Linse, das akkurate Funktionieren von Ventilator und Linsen-Verschlussklappe, wie man die Anlage in Ordnung hält, wie man all das repariert, was kaputtgeht – die alltäglichen Arbeiten. Jeder Teil dieser Routine war ihm willkommen, er genoss es, keine Zeit zu haben, über die Vergangenheit nachdenken zu müssen, und deshalb machten ihm die gelegentlichen Überstunden auch nichts aus – besonders jetzt, wo er immer noch Charlies Umarmungen spürte.
Aber dieses Gefühl schwand schnell, als er sah, wer ihn auf dem Schotterparkplatz erwartete, der wie das ganze Gelände von einem makellosen weißen Zaun eingefasst wurde. Der ramponierte Kombi war ihm, wie auch die beiden Adepten der Séance-&-Science-Brigade, nur allzu bekannt. Sie hatten sich wieder herangeschlichen, um seine gute Stimmung zu ruinieren, und sogar schon ihre Ausrüstung neben dem Wagen gestapelt – sie konnten es offenbar kaum erwarten, loszulegen. Er winkte ihnen von Weitem halbherzig zu.
Inzwischen waren sie ständig hier, führten Messungen durch und fotografierten, fütterten ihre sperrigen Tonbandgeräte mit Berichten, drehten ihre dilettantischen Filme. Auf der Suche nach … was? Er kannte die Geschichte der hiesigen Küste, wusste, wie durch Abgeschiedenheit und Stille das Profane überhöht wurde. Wie durch diese Orte und den Nebel und die leeren Strände die Gedanken sich dem Unheimlichen zuwandten und anfingen, aus nichts eine Geschichte zu machen.
Saul ließ sich Zeit, weil sie ihn langweilten und inzwischen ziemlich berechenbar waren. Sie waren zu zweit unterwegs, der eine für die Séance, der andere für die Wissenschaft zuständig, und er fragte sich manchmal, was sie wohl wie miteinander besprachen – voller innerer Widersprüche, genau wie er zum Ende seiner Predigerzeit, als die Diskussionen in seinem Kopf nicht verstummen wollten. Zuletzt waren immer dieselben gekommen: ein Mann und eine Frau, beide Mitte zwanzig, obwohl sie ihm manchmal wie Teenager vorkamen, ein Junge und ein Mädchen, die von zu Hause mit einem Chemiebaukasten und einem Ouija-Board unterm Arm ausgerissen waren.
Читать дальше