Henry und Suzanne. Saul hatte angenommen, dass die Frau für den Aberglauben zuständig war, aber sie stellte sich als die Wissenschaftlerin heraus – welches Fach wohl? –, während er sich der Erforschung des Unheimlichen widmete. Henry sprach mit einem leichten Akzent, den Saul nicht zuordnen konnte, der aber alles, was er sagte, mit Bedeutsamkeit und Autorität auflud. Er war untersetzt und so glatt rasiert, wie Saul bärtig war; er hatte dunkle Schatten unter den blassblauen Augen und trug das schwarze Haar in einem Topfschnitt, der die ungewöhnlich hohe und zumeist bleiche Stirn verdeckte. Weltliche Dinge wie die winterliche Jahreszeit schienen Henry nicht zu interessieren, denn er trug immer die gleiche Kombination von zartblauem Button-down-Hemd und Anzughose. Die glänzenden schwarzen Stiefeletten mit Reißverschluss waren mehr für die Straßen der Stadt als fürs Gelände gemacht.
Suzanne schien mehr ein »Hippie« zu sein, wie die Leute das heutzutage nannten, aber zu Sauls Jugendzeiten hätten sie wohl eher von Kommunisten oder Zigeunern gesprochen. Sie hatte blonde Haare und trug eine bestickte, weiße Bauernbluse sowie einen braunen Wildlederrock, der ihr über die Knie und fast bis zu den wadenhohen braunen Stiefel reichte. Frauen wie sie waren ab und zu mal bei seinen Predigten aufgetaucht – verlorene Gestalten, die nur in ihrem eigenen Kopf lebten und auf etwas warteten, das sie erleuchtete. Sie wirkte zerbrechlich, was sie wie eine Art Schwester von Henry erscheinen ließ.
Keiner von beiden hatten ihm einen Nachnamen verraten, obwohl einer von ihnen mal etwas von »Serum-Liste« gesagt hatte, was aber keinen Sinn ergab. Wenn Saul ehrlich war, wollte er sie auch nicht näher kennenlernen und nannte sie hinter ihrem Rücken »die Fliegen-Brigade«, wie von »Fliegengewicht«.
Als Saul schließlich vor ihnen stand, begrüßte er sie mit einem knurrigen ›Hallo‹, und wie häufig benahmen sich die beiden, als sei er ein Angestellter im Lebensmittelladen des Dorfes und der Leuchtturm eine öffentliche Einrichtung, die Dienstleistungen anbot. Ohne die Genehmigung der Parkverwaltung hätte er ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen.
»Saul, warum sehen Sie so unglücklich drein, wo doch ein so schöner Tag ist«, sagte Henry.
»Saul, es ist wirklich ein so schöner Tag«, ergänzte Suzanne.
Er rang sich ein Nicken und ein mürrisches Lächeln ab, was beide in Lachkrämpfe verfallen ließ, die er ignorierte.
Aber sie redeten weiter auf ihn ein, während er die Tür aufschloss. Sie wollten immer reden, obwohl er es lieber gesehen hätte, wenn sie sich einfach um ihre Sachen gekümmert hätten. Dieses Mal ging es um etwas, das sie »nekromantische Dopplung« nannten, um den Bau eines dunklen Raums voller Spiegel, soweit er verstand. Es war ein merkwürdiger Begriff und er hörte über ihre Erklärungen hinweg, konnte keine Verbindung mit dem Leuchtfeuer oder seinem Leben im Leuchtturm erkennen.
Die Leute hier waren nicht dumm, aber sie waren abergläubisch, und angesichts des zuweilen menschenfressenden Meers konnte man ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Ein Glücksbringer an einer Halskette konnte ebenso wenig Schaden anrichten wie ein paar Gebete für die Sicherheit eines geliebten Menschen. Jeder, der von außen kam und nach Erklärungen suchte, die Dinge »analysieren und untersuchen« wollte, wie Suzanne es ausgedrückt hatte, stieß die Leute ab, denn er trivialisierte alle zukünftigen Tragödien. Aber so wie man sich an diese nervigen Ratten der Lüfte gewöhnte, die Möwen, so gewöhnte man sich nach einer Weile auch an die »Brigade«. An besonders eintönigen Tagen freute er sich beinahe über ihre Anwesenheit. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?
»Henry glaubt, dass das Leuchtfeuer so ziemlich wie ein nekromantischer Raum funktionieren könnte«, sagte Suzanne, als wäre das eine bedeutende und verblüffende Erkenntnis. Ihr Enthusiasmus schien ihm sowohl ernst gemeint und authentisch als auch leichtfertig und amateurhaft. Manchmal erinnerten ihn die beiden an reisende Prediger, die ihre Zelte an den Rändern kleiner Städte aufbauten und nicht viel mehr als ihren religiösen Eifer zu bieten hatten. Manchmal hielt er sie für Scharlatane. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Saul Henry so verstanden, dass sie die Lichtbrechung in einem geschlossenen System untersuchen wollten.
»Kennen Sie diese Theorien?«, fragte Suzanne, während sie die Treppen hinaufstiegen; sie trug einen Koffer, und die Kamera um den Hals wie Schmuck. Henry versuchte, nicht allzu angestrengt auszusehen, und schwieg. Er war schwer mit der Ausrüstung bepackt, die zum Teil in einer Kiste verstaut war: Mikrofone, Kopfhörer, UV-Messgeräte, 8mm-Kameras und einen Haufen Geräte mit Skalen, Drehknöpfen und anderen Anzeigen.
»Nein«, sagte Saul – hauptsächlich, um ihr zu widersprechen, denn Suzanne behandelte ihn häufig wie einen Kulturbanausen, hielt seine schroffen Umgangsformen für Unwissenheit und seine legere Kleidung für die eines Simpels. Und davon abgesehen waren sie in seiner Gegenwart umso entspannter, je weniger er sagte. Es war fast so wie mit potenziellen Spendern während seiner Zeit als Prediger. Außerdem wusste er wirklich nicht, wovon sie sprachen, und genauso wenig hatte er verstanden, was Henry meinte, als er erzählte, sie würden das »Trottoir« oder den »Terror« der Gegend untersuchen, auch wenn er das Wort T-e-r-r-o-i-r buchstabiert hatte.
»Präbiotische Partikel«, quetschte Henry fröhlich, aber keuchend hervor. »Kinetische Energien.«
Suzanne stieg darauf mit einem längeren Vortrag über Spiegel ein und Dinge, die aus Spiegeln heraussehen können, und wie man mehr über die wahre Natur von Sachen erfuhr, wenn man sie nicht direkt, sondern von der Seite her ansah, und während sie so redete, überlegte Saul, ob die beiden wohl ein Liebespaar waren. Ihr plötzlicher Enthusiasmus für den übersinnlichen Teil der Brigade hatte vielleicht ganz prosaische Gründe. Das würde auch ihre Lachkrämpfe bei der Begrüßung erklären. Aber er hatte erst mal genug. Auch wenn es kleinlich war, er wollte sich noch der Stimmung hingeben, die die Nacht mit Charlie bei ihm ausgelöst hatte.
»Wir sehen uns oben«, sagte er deshalb und sprang die Stufen hoch, nahm immer zwei auf einmal, während sich Suzanne und Henry hinter ihm abmühten und schnell außer Sicht waren. Er wollte so viel Zeit wie möglich alleine oben in der Spitze verbringen. Die Verwaltung würde ihn mit fünfzig in den Ruhestand schicken, so war es vorgeschrieben, aber bis dahin wollte er seine Form halten. Trotz des Stechens in den Gelenken.
Oben angekommen und keineswegs außer Atem war Saul glücklich, dass im Laternenraum noch alles so war, wie er es zurückgelassen hatte, die Schutzhülle über das Leuchtfeuer gestülpt, um sowohl Kratzer als auch Einfärbungen durch Sonnenstrahlen zu vermeiden. Er musste nur die Vorhänge vor dem umlaufenden Geländer zurückziehen, um Licht hereinzulassen. Nur für ein paar Stunden am Tag, sein Zugeständnis an Henry.
Einmal hatte er von seinem Aussichtspunkt aus etwas Riesiges durch die Gewässer jenseits der Sandbänke gleiten sehen, eine Art Schatten von düsterem und tiefem Grau, der sich wie eine mächtige, geschmeidige Kontur im Blau des Wassers abzeichnete. Selbst mit Fernglas hatte er nicht erkennen können, um welche Kreatur es sich handelte, oder was daraus werden mochte, wenn er nur lange genug darauf starrte. Wusste nicht, ob es schließlich in Tausende von Schatten zerspringen würde, sich als Fischschwarm entpuppte oder als Illusion, die bei Änderung der Farbe des Wassers oder Intensität des Lichts einfach verschwand. In diesem Spannungsfeld zwischen Wissen und Nichtwissen um das Alltägliche fühlte er sich auf eine Art wohl, die er vor fünf Jahren noch nicht gekannt hatte. Er brauchte keine größeren Mysterien als diese Augenblicke, in denen sich die Welt so wunderbar zeigte wie in seinen früheren Predigten. Außerdem war das eine gute Geschichte für die Bar unten im Dorf, genau die Art Geschichte, die man von einem Leuchtturmwärter erwartete – wenn man überhaupt etwas von einem Leuchtturmwärter erwartete.
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