Ghostbird blieb stehen, und mit ihr Control. Ein Mann mit hervortretenden Wangenknochen, großen Augen, einer breiten Nase, die einem Boxer alle Ehre gemacht hätte, und hellbrauner Haut. Er trug Jeans und ein rotes Flanellhemd, dazu eine schwarze Jacke und Stiefel, die für eine Wanderung durch die Wildnis nicht ihre erste Wahl gewesen wären. Der Direktor von Southern Reach. Der Mann, der sie verhört hatte. Vielleicht von athletischer Gestalt, aber seitdem sie in Area X unterwegs waren, ging er vornübergebeugt und murmelte vor sich hin, während er ständig in ein paar wasserfleckigen, zerknitterten Seiten blätterte, die er aus einem alten Southern-Reach-Bericht gerettet hatte. Relikte der alten Welt.
Er schien kaum wahrzunehmen, dass sie stehen geblieben waren.
»Was ist?«, fragte er.
»Vögel.«
»Vögel?« Als sei dies ein Fremdwort für ihn, ohne Bedeutung. Oder Sinn. Aber wer wusste schon, was hier Bedeutung hatte.
»Ja. Vögel.« Genauere Erklärungen waren wohl Verschwendung.
Sie hob das Fernglas und folgte dem Weg der Störche, der sich hierhin und dorthin wand, auf dem sie aber nie ihre Flugformation aufgaben: eine Art lebender, gleitender Wirbel am Himmel. Das Muster erinnerte sie an den Schwarm Fische, in dem sie bei ihrem schockierenden Eintritt in Area X vom Meeresboden aus aufgetaucht waren.
Verstanden die Störche, die von oben auf sie herabschauten, was sie sahen? Erstatteten sie irgendetwas oder irgendjemandem Bericht? Während der vergangenen zwei Nächte hatte sie gespürt, wie sich Tiere am Saum ihres Lagerfeuers sammelten, düstere und unnahbare Sensoren von Area X. Control drängte zur Eile, als ob es etwas bedeutete, ein Ziel zu haben, während sie Fakten sammeln wollte.
Es hatte bereits ein paar Missverständnisse gegeben, was sie beide betraf, seit sie am Strand an Land gekommen waren – besonders bezüglich der Frage, wer hier das Kommando hatte; in der Folge hatte er den alten Namen wieder angenommen, sie gebeten, ihn nicht John, sondern Control zu nennen, was sie respektierte. Für einige Tiere war es lebenswichtig, einen Panzer zu haben. Ohne ihn würden sie nicht lange überleben.
Er sehnte sich offenbar nach etwas Vertrautem, an das er sich klammern konnte, das ihm Schutz versprach, und so glaubte sie zu verstehen, warum er sich in etwas, das er »meine Terroir-Seiten« nannte, vertiefte, warum er nicht die Wahrheit gesagt hatte, als sie über die Suche nach Lösungen gesprochen hatten.
Irgendwann im Laufe des ersten Tages hatte sie ihn gefragt: »Was wäre ich für dich in der anderen Welt – du in einem deiner alten Jobs, und ich in meinem?« Er hatte ihr nicht geantwortet, aber sie glaubte die Antwort auch so zu kennen: Sie wäre eine Verdächtige, eine Feindin des Wahren und Richtigen. Aber was waren sie hier füreinander? Irgendwann demnächst mussten sie ein ernsthaftes Gespräch führen, musste sie ihn aus der Reserve locken.
Doch im Augenblick interessierte mehr das, was da links von ihnen im Röhricht aufgeblitzt war, etwas Oranges. Eine Fahne?
Sie musste sich wohl verkrampft haben, oder etwas anderes an ihrem Verhalten hatte sie verraten, denn Control fragte: »Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
»Nichts Schlimmes, wahrscheinlich.«
Einen Augenblick später sah sie das Orange wieder – einen Fetzen, einen ausgefransten Lumpen, der an ein Schilfrohr gebunden war und im Wind hin und her flatterte. Etwa hundert Meter entfernt in einem Ozean von Schilfrohr, auf diesem trügerischen Marschland aus alles verschlingendem Schlick. Gleich dahinter schien ein Schatten oder eine Mulde zu liegen, das Schilfrohr war niedergedrückt und gab den Blick auf etwas frei, das sie von ihrem Standpunkt aus nicht genau erkennen konnten.
Sie reichte ihm das Fernglas. »Siehst du das?«
»Ja. Ist die … Markierung eines Vermessers«, sagte er unbeeindruckt.
»Weil das so wahrscheinlich ist«, sagte sie und bereute es sofort.
»Okay. Dann ›scheint‹ es die Markierung eines Vermessers zu sein.« Er gab ihr das Fernglas zurück. »Wir sollten auf dem Weg bleiben und zusehen, dass wir zur Insel kommen.« Ausnahmsweise sprach er das Wort Insel mal offen aus, aber sein Unwille, gemeinsam den Fetzen zu untersuchen, war nicht weniger deutlich herauszuhören.
»Du kannst hierbleiben«, sagte sie und wusste, dass er nicht bleiben würde. Wusste, dass sie ihn lieber hiergelassen hätte, um mal ein paar Augenblicke lang in Area X wirklich alleine zu sein.
Dabei: Wer war hier schon wirklich alleine?
Noch lange nachdem sie auf dem leeren Grundstück aufgewacht und dann für die Verhöre nach Southern Reach gebracht worden war, glaubte Ghostbird, tot und im Fegefeuer zu sein, obwohl sie nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte. Das Gefühl hatte auch mit der Einsicht nicht nachgelassen, dass sie auf unbekannte Weise über die Grenze zurück in die reale Welt gekommen war … ja, dass sie nicht einmal die echte Biologin der zwölften Expedition war, sondern eine Kopie.
Sie hatte das bei einem der Verhöre durch Control auch zugegeben: »Ich war still und so leer … Ich wartete da, hatte Angst zu gehen, hatte Angst, es würde einen Grund geben, dass ich genau dort sein sollte.«
Aber das war nur ein Teil ihrer Gedanken, ihrer Analyse der Situation. Es ging nicht nur um die Frage, ob sie denn tatsächlich lebte, sondern – falls sie lebte – wer sie war, die da in diesem Zimmer in Southern Reach von allem abgeschottet wurde. Sodann, dass ihre Erinnerungen nicht ihre eigenen waren; dass sie von irgendwoher kamen und sie nicht sicher sein konnte, ob ein Experiment von Southern Reach dahintersteckte oder etwas, das Area X verursacht hatte. Sogar bei ihrer Flucht auf dem Weg nach Central hatte sie das Gefühl, eine Projektion zu sein, dass dies alles jemand anderem passierte, sie nur eine Zwischenlösung war; dass diese Kluft sie vielleicht vor einer erneuten Verhaftung bewahrt hatte, ihr geholfen hatte, völlig ruhig bei allem zu bleiben, was sie tat. Als sie in Rock Bay angekommen war, das die Biologin so gut von früher her kannte, hatte sie, weit weg von allem, eine Weile Ruhe gehabt und die Landschaft auf eine andere Weise auf sich wirken lassen – sie war in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt worden.
Aber erst als sie es geschafft hatten, sich nach Area X durchzuschlagen, hatte sie ihr Unbehagen, ihre Ziellosigkeit tatsächlich überwunden. Als das Wasser sie von allen Seiten umschloss, kam die Erinnerung an ein früheres Erleben hoch und sie war panisch geworden. Doch dann wurde irgendwo ein Schalter umgelegt, oder etwas war zurückgekommen, und ihr Aufbegehren gegen den Tod hatte zu einer hymnischen Erfahrung des Meers geführt, sie hatte den Kampf um den Weg zur Oberfläche angenommen, als eine Art Beweis, dass sie nicht die Biologin, dass sie etwas anderes war, das in seinem Überlebenskampf die Angst vor dem Ertrinken vertreiben konnte, denn es war nicht ihre eigene Angst.
In der Folge war ihr sogar die erfolgreiche Wiederbelebung von Control am Strand als unwiderlegbarer Beweis ihrer Souveränität erschienen. Ebenso wie ihr Beharren darauf, die Insel anzusteuern, und nicht den Leuchtturm. »Wo auch immer die Biologin hingegangen wäre, dahin werde ich gehen.« Die Wahrhaftigkeit, die Richtigkeit dessen hatte ihr Hoffnung gegeben, trotz des Gefühls, dass alles, woran sie sich erinnerte, wie der Blick durch ein offenes Fenster auf das Leben eines anderen Menschen war. Nicht wirklich erlebt, oder noch nicht erlebt. »Du willst ein bereits geregeltes Leben haben, weil du kein eigenes hast«, hatte Control es auf eine ziemlich geschmacklose Art ausgedrückt.
Seitdem waren sie auf kaum etwas gestoßen, das zu untersuchen sich gelohnt hätte. In den fast drei Tagen, die sie jetzt zu Fuß unterwegs waren, war nichts Monströses oder Ungewöhnliches am Horizont aufgetaucht. Nichts Widernatürliches, wenn man von den hyperrealen Aspekten der Landschaft einmal absah, den Prozessen, die sich unter der Oberfläche abspielten. In der Abenddämmerung stieg auch manchmal das Bild des Seesterns der Biologin in ihr auf, leuchtete spärlich wie ein Kompass in ihrem Kopf, schien sie anzuziehen, und dann merkte sie wieder, dass sie hier Dinge spürte, die Control verschlossen blieben. Sie konnte die Gefahren orten, Gelegenheiten wahrnehmen. Das Leuchten hatte sie verlassen, aber etwas anderes war an seine Stelle getreten.
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