Für Ann
JEFF VANDERMEER
Band 1 der
Southern-Reach-Trilogie
Aus dem Englischen von
Michael Kellner
Verlag Antje Kunstmann
Der Turm, der dort nicht hätte sein dürfen, bohrt sich an einer Stelle in die Erde, wo der dunkle Kiefernwald in Sumpf und Schilfrohr und die sich anschließenden Salzmarschen mit den windzerzausten Bäumen übergeht. Hinter den Salzmarschen und natürlich entstandenen Kanälen liegt das Meer, und ein bisschen weiter die Küste hinauf ein verlassener Leuchtturm. Aus Gründen, die man nicht einmal mehr erahnen kann, sind diese Landstriche schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden. Seit zwei Jahren hatte keine Expedition mehr Area X betreten, und die Ausrüstung unserer Vorgänger rostete vor sich hin, ihre Zelte und Schuppen waren nicht mehr als leere Hülsen. Ich glaube nicht, dass irgendeine von uns beim Anblick dieser friedvollen Landschaft bereits die Bedrohung spürte.
Wir waren zu viert: Eine Biologin, eine Anthropologin, eine Landvermesserin und eine Psychologin. Ich war die Biologin. Dieses Mal hatten sie nur Frauen ausgesucht, Teil eines komplexen Musters von Variablen, nach dem die Expeditionen zusammengestellt wurden. Die Psychologin war etwas älter als wir anderen und fungierte als Leiterin der Expedition. Sie hatte uns unter Hypnose gesetzt, um die Grenze zu überqueren, damit wir ruhig blieben. Als wir die Küste erreichten, lag eine harte, fünftägige Wanderung hinter uns.
Unsere Mission war einfach: Wir sollten im Auftrag der Regierung die Erkundung der Geheimnisse von Area X fortführen und uns langsam vom Basislager aus weiter vorarbeiten.
Die Expedition konnte Tage, Monate oder sogar Jahre dauern, das hing ganz von den Umständen und Ereignissen ab. Unsere Vorräte reichten vier Monate, und im Basislager wartete Proviant für weitere zwei Jahre auf uns. Außerdem wurde uns versichert, wir könnten uns bedenkenlos von den Früchten des Landes ernähren, falls nötig. All unsere Lebensmittel waren entweder geräuchert, als Konserven oder als Notfallrationen verpackt. Das merkwürdigste Stück unserer Ausrüstung war ein Messgerät, das jede von uns erhalten hatte und das an unseren Gürteln baumelte: ein kleines Rechteck aus schwarzem Metall mit einem verglasten Loch in der Mitte. Sollte das Loch rot aufglühen, hatten wir dreißig Minuten Zeit, uns an einen »sicheren Ort« zurückzuziehen. Manhatte uns nicht gesagt, was das Gerät maß und wovor wir uns in Acht nehmen sollten, wenn es zu glühen anfing. Nach ein paar Stunden hatte ich mich so daran gewöhnt, dass ich keinen zweiten Blick mehr darauf warf. Uhr und Kompass waren uns verboten.
Nachdem wir das Lager erreicht hatten, machten wir uns daran, verfallene oder beschädigte Teile der Anlage auszutauschen und unsere eigenen Zelte aufzubauen. Die Hütten wollten wir erst später bauen, wenn wir sicher waren, dass Area X keine Auswirkungen auf uns hatte. Die Mitglieder der vorherigen Expedition hatten sich schließlich einfach davongemacht, einer nach dem anderen. Im engeren Sinne waren sie nicht verschwunden, sondern mit der Zeit zu ihren Familien zurückgekehrt. Sie waren einfach aus Area X verschwunden und auf unbekannten Wegen in die Welt auf der anderen Seite der Grenze zurückgekehrt. An Einzelheiten ihrer Reise konnten sie sich nicht erinnern. Diese Rückführung hatte sich über einen Zeitraum von achtzehn Monaten hingezogen, und früheren Expeditionen war das nicht passiert. Aber auch andere Phänomene konnten die »vorzeitige Auflösung der Expedition«, wie unsere Vorgesetzten das nannten, zur Folge haben, und wir mussten zunächst herausfinden, ob wir dem Ort gewachsen waren.
Aber zuerst mussten wir uns mit der Umwelt vertraut machen. In den Wäldern nahe des Lagers konnte man auf Bären oder Kojoten treffen. Man konnte ein überraschendes Krächzen hören, und während man einen Nachtreiher beobachtete, der von einem Ast herunterstarrte, derart abgelenkt auf eine giftige Schlange treten, von denen es hier zumindest sechs verschiedene Arten gab. In den Sümpfen und Flüssen lauerten riesige Reptilien, also passten wir auf, dass wir beim Entnehmen unserer Wasserproben nicht zu tief hineinwateten. Aber diese Aspekte des Ökosystems machten keiner von uns Sorgen. Dafür verunsicherte uns anderes. Vor langer Zeit hatte es hier Dörfer gegeben, und wir stießen auf gespenstische Anzeichen menschlicher Besiedlung: Rottende Hütten mit eingesunkenen, rotstichigen Dächern, davor verrostete Speichenräder, die bis zur Nabe im Schlamm steckten, und Ornamente auf den kiefernadelbedeckten Lehmböden, die Schemen von etwas, das wohl einmal Zäune für Viehweiden waren.
Aber viel schlimmer war dieses tiefe, mächtige Wehklagen während der Dämmerung. Der Wind vom Meer und die merkwürdige Stille des Hinterlands trübten unseren Orientierungssinn, wir wussten nicht, woher es kam, und so schien dieses Klagen in das schwarze Wasser einzusickern, das die Zypressen durchtränkte. Das Wasser war so schwarz, dass wir unsere Gesichter darin sehen konnten, und es geriet niemals in Bewegung, wie Glas, spiegelte nur das wie Bärte herabhängende spanische Moos, das die Zypressen umhüllte. Wenn man über dieses Gebiet Richtung Meer schaute, sah man nichts anderes als schwarzes Wasser und das Grau der Zypressenstämme, an denen reglos die Flechten hinabflossen. Nur das tiefe Wehklagen war zu hören. Die Wirkung versteht man nur, wenn man dort gewesen ist. Auch die Schönheit all dessen versteht man nicht, und wenn man Trostlosigkeit schließlich als schön empfindet, dann hat sich etwas in einem verändert. Dann ist die Trostlosigkeit dabei, sich im Inneren auszubreiten.
Wie schon vermerkt fanden wir den Turm an einer Stelle, wo der Wald zunächst in Sumpf und dann in die Salzmarschen übergeht. Dies geschah am vierten Tag nach unserer Ankunft im Basislager, und inzwischen hatten wir uns gut zurechtgefunden. Weder die beiden Karten, die wir mitgebracht hatten, noch die wasserfleckigen und mit Kieferpollen verschmutzten Unterlagen unserer Vorgänger ließen vermuten, dass wir dort etwas vorfinden würden. Aber dort war er, umsäumt von Buschgras, links des Weges, moosbedeckt und dadurch kaum zu erkennen: Ein runder Block aus unbestimmt grauem Stein, der eine Mischung aus Beton und zermahlenen Muscheln zu sein schien. Er maß wohl knapp zwanzig Meter im Durchmesser, dieser runde Block, und ragte zwanzig Zentimeter über dem Boden auf. Sein Äußeres war glatt und wies keinerlei Schrift oder andere Zeichen auf, die Rückschlüsse auf seine Erbauer oder seinen Zweck geliefert hätten. Exakt nach Norden ausgerichtet fand sich eine rechteckige Öffnung in der Oberfläche, von der aus Stufen spiralförmig ins Dunkel führten. Der Eingang war unter den Netzen der Bananenspinnen und allerlei Abfällen, die Stürme hierher geweht hatten, kaum zu erkennen, aber von unten kam ein kühler Luftzug.
Zunächst war ich die einzige, die Turm dazu sagte. Ich weiß nicht, wie mir das Wort Turm in den Sinn kam, führte doch eine Art Tunnel in den Boden. Ich hätte es genauso gut für einen Bunker oder ein verschüttetes Gebäude halten können. Aber als ich die Treppenstufen sah, fiel mir der Leuchtturm an der Küste ein und plötzlich hatte ich eine Vision der vorherigen Expedition, deren Teilnehmer einer nach dem anderen verschwanden, und irgendwann später begann sich der Boden nach irgendeinem Plan und als Ganzes zu verschieben und beließ den Leuchtturm an seinem Platz, verschob seinen unterirdischen Teil aber ein Stück weit ins Hinterland. Während wir dort standen, sah ich diesen Prozess in verwirrender und ungeheurer Detailtreue vor meinem inneren Auge ablaufen, und rückblickend war das der erste jener wirren Gedanken, die sich einstellten, nachdem wir unserer Ziel erreicht hatten.
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