1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Mitten im elften Zyklus der Expeditionen spürst du, dass deine Erschöpfung zunimmt, und Central setzt inzwischen andere Prioritäten. Der breite Zustrom von neuen Mitarbeitern, Geld und Equipment ist zu einem Tröpfeln geworden, da Central inzwischen den größten Teil der Zeit darauf verwendet, den Inlandsterrorismus zu bekämpfen und alle Anzeichen, die auf eine um sich greifende Zerstörung der Umwelt deuten, zu verheimlichen.
Nach langen Arbeitstagen kehrst du nach Bleakersville zurück, aber das ist längst kein Refugium mehr. Die Gespenster folgen dir, sitzen auf der Couch oder glotzen durchs Fenster. Gedanken, die dir alles andere als willkommen sind, schleichen sich in den unmöglichsten Augenblicken ein – in eine Lagebesprechung, zum Lunch mit Grace in der Cafeteria, auf der müßigen Suche nach den neuesten Wanzen, die Central in deinem Büro installiert hat: Vielleicht ist es das alles nicht wert, vielleicht erreichst du überhaupt nichts. Jede Expedition fügt weiteres Gewicht zu der Last hinzu, die du trägst.
»Ich hätte Direktor werden können«, hat Lowry mal geprahlt, »aber dann ging im Cockpit eine Warnleuchte an und ich habe den Wink verstanden.« Die Warnleuchte ist die Angst, die Lowry mit sich herumschleppt, aber das würde er niemals zugeben. Die grausame Heiterkeit, die ihn antreibt, als wüsste er, dass er Unmögliches verlangt.
Immer in Sorge, wie ein ständiges leichtes Fieber, dass irgendjemand in Southern Reach hinter dein Geheimnis kommt, dass Lowry nicht dazu in der Lage ist, diese Information für immer geheim zu halten – oder er das Geheimnis selbst enthüllt, weil er beschlossen hat, dass du austauschbar bist. Ein Sicherheitsrisiko. Eine Lügnerin. Gefühlsmäßig zu involviert. Dabei traust du nichts weniger als Mitgefühl, das weist du weit von dir und ziehst es vor, für alle außer Grace, kühl, abweisend, sogar schroff zu erscheinen, sodass du einen klaren Kopf haben und objektiv sein kannst … obwohl dieses Vorgehen dich auch ein wenig kühl, abweisend und schroff gemacht hat.
Und du kannst es zwar nicht quantifizieren, aber du glaubst, dass Lowrys Herangehensweise Southern Reach weiter von den Antworten forttreibt. Und schlimmer noch, deiner Ansicht nach, und in Erinnerung, aber ohne Nostalgie, an deine Zeit als Psychologin: Lowry hat sich selbst dazu verdammt, auf zahllosen Wegen seine eigenen schrecklichen Erfahrungen in Area X immer wieder zu durchleben, sodass er sich nie davon befreien kann und der oberflächliche Versuch, Distanz zu entwickeln, sich in ein permanentes Klammern verkehrt hat.
Dein anderer Zufluchtsort ist das Dach von Southern Reach – das der verrückte, gewundene First, der einmal um das Dach herumläuft, vor Blicken schützt. Außer Reichweite, kurz AR, im Winter auch mal »Argh« und im Sommer dann »Ahmm« oder »Aha« oder »Ahoi!«. Und wenn es um ein paar Drinks nach der Arbeit geht, immer B-A-R.
Du teilst diesen geheiligten Platz mit nur einem Menschen: Grace. Ihr diskutiert die Ideen, die dir im Star Lanes kommen, kaut alles durch, und keiner kann euch stören, denn außer dir, Grace und dem Hausmeister hat niemand einen Schlüssel. Es passiert häufig, dass die anderen versuchen, dich aufzustöbern, aber du verschwindest einfach und keiner weiß, dass du auf dem Dach wiederauftauchst, außer Reichweite, AR.
Dort oben, mit Blick auf den prähistorischen Sumpf und die sich meilenweit erstreckenden Kiefernwälder, erfindet ihr all die Spitznamen: Die Grenze ist »der Graben« und der Weg hinein »die Vordertür«, obwohl ihr beide wie immer hofft, noch einen »Nebeneingang« oder eine »Falltür« zu finden. Die topografische Anomalie, auch Tunnel genannt, heißt bei euch nur »El Topo«, nach einem merkwürdigen Film, den Grace mal mit ihrer Freundin gesehen hat.
Ein Großteil davon ist einfach albern, aber im jeweiligen Augenblick lustig, besonders wenn du eine Flasche Brandy dabeihast, oder sie Zigaretten mit Kirschgeschmack mitbringt und ihr euch in die Liegestühle fläzt und brainstormt oder über die kommende Woche redet. Grace weiß über Chipper’s Bescheid, genauso wie du über ihre Kanutouren mit Freunden, ihre »Paddelsucht«. Du brauchst ihr auch nicht zu sagen, dass sie nicht bei Chipper’s auftauchen soll, und ebenso wenig würdest du dich aufdrängen und an einer Kanutour teilnehmen wollen. Eure Freundschaft ist so breit und so tief wie Southern Reach.
Auf dem Dach redest du mit Grace auch zum ersten Mal über deine Idee, Area X einen Besuch abzustatten. Mit der Zeit ist daraus mehr geworden als nur ein beiläufiger Gedanke – als Code, der Metastasen gebildet hat, als »Geschäftsreise mit Whitby«, denn die Expeditionen der zehnten und elften Runde sind gut gelaufen, obwohl es immer noch keine Antworten gibt.
Du brauchst ihren Rat, kannst Grace aber nicht mitnehmen. Denn das hieße, beide Köpfe auf einmal abzuschlagen, falls etwas schiefläuft, und du glaubst auch nicht, dass sie die Richtige dafür ist; zu viele Verbindungen zum Leben. Kinder. Schwestern. Einen Exmann. Eine Geliebte. Du witzelst, dass Grace dein »externer moralischer Kompass« ist und besser als du weißt, wo es Grenzen gibt. »Zu normal«. Hast du mal auf eine Serviette gekritzelt.
»Warum lässt du zu, dass Lowry dir Vorschriften macht?«, fragt Grace eines Nachmittags, nachdem du das Gespräch in diese Richtung gelenkt hast. Du wiegelst ab und denkst nach. Lowry ist nicht ein direkter Vorgesetzter, mehr wie ein indirekter, steht nicht am Ende der Befehlskette, hat aber trotzdem das Heft in der Hand. Grace sollte wissen, wie Lowry es geschafft hat, sich in Central festzusetzen, und wie er es geschafft hat, dich unter Kontrolle zu bringen, und du hast es geschafft, diese Informationen vor Grace zu verbergen.
Du weist Grace darauf hin, dass es eine Provinz dieses Königreichs gibt, die du kontrollierst, in der Lowry keinen Einfluss hat: All das, was die Expeditionen aus Area X zurückbringen. All das geht durch die Hände von Southern Reach, und als die letzte elfte Expedition mit nichts anderem als ein paar verschwommenen Fotografien zurückkommt, die die vorherige oder noch eine frühere Expedition im Basislager zurückgelassen hat, nimmst du dir die Bilder vor und starrst sie stundenlang an. Eine Ansammlung von Schatten vor einem schwarzen Hintergrund. Aber ist das eine Mauer? Ist dies eine Struktur, die dich an Fotos anderer Expeditionen erinnert? Also suchst du alle Fotos heraus, die in »El Topo« aufgenommen worden sind. Es sind dreizehn, und ja, auch die neuen könnten im Tunnel gemacht worden sein. Dieser Schatten, diese schwachen Umrisse eines Gesichts … kennst du das? Machst du einen Fehler, wenn du annimmst, dass es etwas bedeutet?
Du beichtest Grace deinen schlichten Plan, zeigst ihr einige der Hinweise und würdest darauf wetten, dass sie dich nicht bei Central verpfeift – weißt aber, dass sie es aus Respekt vor den Vorschriften vielleicht doch tun würde. Denn du befürchtest, dass alles, trotz der guten Gründe, der Fakten, auf eins hinausläuft: das tiefe Gefühl, es leid zu sein, wenn wieder eine Expedition nicht zurückkommt, oder nur die Hälfte der Leute zurückkommen, oder mit leeren Händen zurückkommen. Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel.
»Nur eine kurze Spritztour nach El Topo und zurück. Wird keiner je erfahren.« Aber Lowry könnte es herausbekommen. Was wird er tun, wenn er herausfindet, dass sie die Grenze ohne seine Genehmigung überquert hat? Wird er seine Wut nur an dir auslassen?
Grace schweigt eine Weile und sagt dann: »Was kann ich dazu beitragen?« Denn sie versteht, dass es wichtig ist und dass du es so oder so machst, ob mit ihrer Hilfe oder ohne. »Und glaubst du, dass du Whitby überzeugen kannst?«
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