Maria Zeh konnte erreichen, dass andere Häftlinge, die eine medizinische Ausbildung hatten, zu ihrer Unterstützung ins Revier kamen. So auch die Ärztin Dr. Doris Maase. 10» Da hat das Leben wieder einen Sinn bekommen. Da waren wir ein Team und konnten helfen. Wir mussten mit einem Medizinkasten durch das Lager, und dabei wurden Verbindungen geknüpft. Die Jüdinnen wollten immer Alkohol und Medikamente. Ich war so jung, ich hatte noch nie Medikamente genommen, keinen Kaffee, keinen Alkohol; wir haben nicht geraucht, wir haben leicht gelebt, aber die waren das schon gewohnt .«
Erst beim Abtippen dieses Gesprächs wurde ich auf den erwähnten Alkohol aufmerksam. Ich fragte nach, und Maria Zeh erzählte, dass die Jüdinnen sich betäuben wollten, bevor sie zur Vergasung geschickt wurden. Deshalb habe sie den reinen Alkohol aus der Lagerapotheke gestohlen. Vor laufender Kamera wollte sie allerdings nicht darüber sprechen, weil sie fürchtete, dies könnte noch heute als kriminelle Handlung angesehen werden. Tausende Jüdinnen wurden vergast – und Maria Zeh hatte ein schlechtes Gewissen, geklaut zu haben? Dieser tiefgründige Ehrbegriff schien mir nahezu unverständlich. Allerdings erfuhr ich in diesem Zusammenhang auch, dass Maria Zeh im Alter schwer alkoholkrank war und ein gemäßigter Umgang mit Alkohol ihr große Disziplin abverlangte.
»Ich bin mit Sehnsucht geboren und sterbe mit Sehnsucht«
» Doris Maase und ich konnten im Revier helfen. Zum Beispiel konnten wir eine, die gefährdet war durch Transport, drei Tage im Revier lassen. Du warst immer in so einem Fieber, du bist ja auch immer mit einem Fuß im Strafblock gestanden. Aber trotz allem, man hatte eine wahnsinnige Sehnsucht nach dem Leben, die hab ich heute noch. Ich bin ein Mensch, der mit Sehnsucht geboren wurde und mit Sehnsucht stirbt. Ich hab Sehnsuchtsgedanken, wenn andere schon halb tot sind. Dann denk ich immer an das, was noch kommt. Du weißt ja, wie alt ich bin. Aber ich hab ja auch immer so viel zu tun. Damals haben wir uns immer alles erzählt und auch die Liebesbriefe gelesen. Doris Maase und Lina Haag 11bekamen welche – ich hab keine bekommen .«
Die Hilfe für andere, sagte Maria Zeh, sei eine wirkliche Erfüllung gewesen, durch die die eigenen Sorgen und sogar der Hunger in Vergessenheit gerieten. » Ich hatte dadurch einen Vorteil, dass ich Faltboot gefahren, Ski gelaufen bin, jung verheiratet war. Ich hatte schon ein anderes Leben. Doch je mehr ich mich daran erinnerte, desto größer war natürlich die Sehnsucht. Doch dann kam ein Einschnitt: Ich hätte ja nie geglaubt, dass ich wieder rauskomme. Selbst als Himmler kam und manche Leute zur Entlassung ausgesucht hat, sagte er zu Doris Maase und zu mir: ›Die haben zu fanatische Augen. Die kommen nicht raus.‹ Das war sehr schwer, als die anderen gingen, und ich blieb da! Auch von dieser Verlassenheit kann ich jetzt noch nachts aufwachen, die kriege ich nicht mehr los. Unter den Aufseherinnen gab es sympathische Frauen, aber es gab auch ganz große Kanaillen. Eine mit Namen Mandl 12, die hat ausgesehen wie ein Engel, blond und blauäugig. Die hat mit einer unerhörten Unbarmherzigkeit zugeschlagen, bis die Haut geplatzt ist. Und eines Abends, die Kameradinnen waren alle weg, stand ich so da, 1001 war meine Nummer, und die Schwester sagte: ›Was denken Sie jetzt, 1001?‹ Ich sagte: ›Was soll ich Ihnen sagen, was ich jetzt denke, wenn alle fort sind?‹ Sie sagte, sie hätte nichts machen können. In meiner Akte stehe ›Rückkehr unerwünscht‹. Ich hab bloß eines gewusst: Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen! So ging’s halt weiter. Und eines Tages hat es geheißen: ›Drei Tage nichts essen und trinken!‹ Das war die Vorbereitung für den Abtransport .«
Moringen und Lichtenburg waren Kindergärten im Vergleich zu Ravensbrück
Maria Zeh wurde im Mai 1939 in das gerade neu eröffnete Frauen-KZ Ravensbrück verlegt. Dort waren zu dieser Zeit ca. 1000 weibliche Häftlinge registriert. Der Lagerdirektor, die SS-Wachmannschaften und die Mehrzahl der Aufseherinnen kamen ebenfalls von der Lichtenburg. Auch der SS-Arzt Dr. Walter Sonntag wurde nach Ravensbrück versetzt. » Wir haben Ravensbrück eröffnet, wir waren einer der ersten Transporte. Dieser Transport war so schrecklich, weil wir keine Notdurft verrichten durften. Es war so trostlos, es gab nur Sand. Ich bin am Neckar aufgewachsen, und dann kommst du dahin an einem schönen Sommertag und hast nur Sand. Und der Ton dort! Man sagt ja, Moringen und Lichtenburg wären Kindergärten gewesen im Vergleich zu Ravensbrück .«
Die Ankommenden erlebten einen Schock. Sie begriffen schnell, dass die Arbeit in den Außenkommandos, im Straßenbau oder beim Entladen von Baumaterialien weitaus bedrohlicher war als die in den Büros der Lagerverwaltung, in der Küche, Wäscherei oder im Krankenrevier. Maria Zeh hatte das Glück, gleich nach ihrer Ankunft wieder gemeinsam mit Doris Maase im Revier eingesetzt zu werden. Mit denjenigen, mit denen sie bereits in der Lichtenburg zusammengearbeitet hatte, konnte sie ihre Hilfe für die Kameradinnen in Ravensbrück fortsetzen. » Als dann im September 1939 der Krieg ausbrach, sind wir, die wir uns gegenseitig anvertraut hatten und auch gefährliche Arbeiten im KZ gemacht haben, wir sind uns bloß in die Arme gefallen und haben gesagt: ›So, jetzt kommen wir nicht mehr raus.‹ Politischer Gegner zu sein und Krieg, da kommen wir nie mehr raus. Wir waren ganz am Boden. Es war der Abschied von der Jugend, vom Leben und überhaupt. Es hat doch keiner gedacht, dass wir da noch mal herauskommen. Und sofort wurde alles strenger: Das Essen wurde gekürzt, die Knute saß loser, es gab immer mehr Gründe, uns zu quälen. Es war wie eine Bestätigung, uns zu vernichten, das hat man ganz deutlich gespürt. Wir spürten, dass abgerechnet wird .«
Im November 1939 wurde Maria Zeh zu einem Verhör in die Ravensbrücker SS-Kommandantur gerufen. »Da wurde ich alles Mögliche gefragt, und dann sagt der: › Was würden Sie denn machen, wenn Sie freikämen?‹ ›Ja‹, sag ich, ›ich habe keine Heimat mehr, ich weiß nicht, was ich mache. Arbeiten, wenn ich Arbeit kriege.‹ Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Meine Mutter war ja gestorben. Die hing mit einem Bild als Mutter von fünf Soldaten in Berlin, bei dieser faschistischen Mutterverehrung, und von mir wurde niemals gesprochen. Nur meine Brüder – fünf Soldaten. Dann sagte eine Freundin: ›Ich kauf dir einen Kamm, ich glaube, du wirst entlassen.‹ An einem schönen Tag hat es geheißen: ›Nach vorne. Entlassen!‹ Da bin ich so erschrocken, ich wollte gar nicht raus .«
»Da hab ich Heimweh nach dem KZ gehabt«
Am 9. November 1939 wurde Maria Zeh aus Ravensbrück entlassen. » Insgesamt war ich ohne Unterbrechung vier Jahre und vier Monate in Haft, davon achtunddreißig Monate in Einzelhaft. Ich bin später sehr viel zum Psychiater geschickt worden, und als das untersucht wurde, war ich die einzige Frau in der Bundesrepublik, die so eine lange Einzelhaft gehabt hatte. Manchmal spüre ich so eine Schwere in mir drin. Dann schlafe ich kaum. Und wenn doch, dann träume ich von allen, die gestorben sind, die man zur Vergasung geschickt hat. An anderen Tagen, obwohl ich’s doch gut habe hier, bringt mich keiner aus dem Haus, da bin ich mein eigener Gefangener. Aber gegen die Träume vom Lager, da kann ich nichts machen. Das hab ich mir schon oft vorgenommen: Du träumst nie mehr davon! Trotzdem träum ich dann davon .«
Nach ihrer Entlassung kehrte Maria Zeh nach Stuttgart zurück. » Ich habe keinen Mantel und nichts gehabt. Keine Handtasche, gar nichts. Die Bluse hat mir die Lina Haag aus einem alten Fetzen von einer Vergasten gemacht. Ich kam ja im Krieg heim, das war ganz schlimm. Ich musste mich immer bei der Gestapo melden. Ich hatte keine Wohnung. Ich war fünfzehn Kilo schwerer vor lauter Wasser. Die Genossen, das kann ich ruhig sagen, sind aufs andere Trottoir, wenn sie einen gesehen haben. Die, die man geschützt hat! Das war eine Einsamkeit! Die wollten einen nicht sehen, weil sie Angst hatten, sie kommen dann ins KZ. Ich hatte auch Angst, weil man uns gesagt hat, wer wieder ins Lager kommt, der kriegt gleich fünfundzwanzig auf den nackten Po. Man durfte ja mit keinem Menschen reden. Man war wahnsinnig einsam und verlassen. Elend war mir. Und da hab ich so richtig Heimweh nach dem KZ gehabt, nach meinen Kameradinnen und Genossinnen .«
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