Zwei Tage und Nächte wurde Maria Zeh im Stuttgarter Gefängnis Büchsenstraße verhört. » Vor allem wollten sie Namen wissen, wer die Leute unterstützt, die Papiere besorgt, Flugblätter gemacht und verteilt hat usw., und natürlich wussten die schon vieles ganz genau. Ich hab mir – aufgrund meiner marxistischen Schule – eine Geschichte ausgedacht, und bei der bin ich geblieben. Später kam ich zur Untersuchungshaft ins Frauengefängnis in der Weimarstraße. Es gab täglich viele Gegenüberstellungen, und der Mußgay 4hat gesagt: ›Guck doch der ihre Augen an, die sagt nichts.‹ Ich hab jeden Tag – wie ein Examinand – meinen Text aufgesagt, genau das, was ich bei der Gestapo gesagt hab. Das ist sehr schwierig, wenn man überhaupt nichts zu schreiben hat. Es ist schrecklich, in einer Zelle zu sitzen, ohne alles. Dann kamen immer mehr Verhaftungen und Gegenüberstellungen. Da war einer, dem ist’s Blut runtergelaufen, der Rudi Bergmann: ›Der hat gerade alles gesagt, und so geht’s Ihnen auch.‹ Da gab es auch Genossinnen, die gesagt haben, was die Gestapo weiß, das kann man ruhig zugeben. Aber das hab ich nicht gemacht .«
»Unwürdig, die Frau eines Beamtenoffiziers zu sein«
» Eines Nachts kam ein Wärter und brachte mich in einen Saal, in dem ungefähr zwanzig Personen und mein Mann waren. Er sagte, er lässt sich nicht scheiden, und die Gestapo hat gesagt: ›Sie werden geschieden!‹ Mein Mann war so traurig und sagte: ›Was haben Sie aus meiner Frau gemacht?‹ Man kann sich ja vorstellen, wie man aussieht, wenn man monatelang da drin hockt. Ich durfte keine Garderobe rein- oder rausgeben und musste immer das Gleiche anhaben, wegen Schmuggelgefahr. Am 24. Dezember, an Heiligabend 1935, kam ein junger Gestapomann und hat mir die Scheidungsurkunde gebracht: ›Unwürdig, die Frau eines Beamtenoffiziers zu sein.‹ Er war ein kleiner Beamter und älter als ich. Ich vergesse nie die Glocken von der Hospitalkirche, da musste ich mit kaltem Wasser siebzig Treppen runterwaschen. Am selben Abend! Ich war geschieden! Die meinten, wenn ich geschieden bin, würde ich vielleicht was sagen .«
Sechs Monate lang blieb Maria Zeh in Einzelhaft im Gefängnis Büchsenstraße, bevor sie in das Frauengefängnis Weimarstraße verlegt wurde. Auch dort wurde sie weiter verhört und blieb in einer Zelle allein. » Bei den Verhören, da hat man täglich zu mir gesagt: › Sie verrecken ja doch bei uns. Sie verrecken bei uns! Sie kommen nimmer raus!‹ Ganz genauso ging das achtunddreißig Monate lang. Wenn man dann einen Widerstand in sich aufbringt, dann bekommt man diese Kraft. Da war so eine ungeheure Lebenssehnsucht, je näher man am Abkratzen war. Ich hatte die ganz feste Überzeugung, die Gewissheit, dass der Faschismus nicht siegt. Das gab mir die ganze Kraft. Ich hatte ganz großes Glück, dass ich hier sitze .«
Maria Zeh ist überzeugt, dass sie selbst nur überleben konnte, weil ihre Freundin Lilo Herrmann 5sie nicht verraten hat. » In der Zelle, in der Mußgay immer gesagt hat, die verreckt da drin, in der Zelle hat der sich später aufgehängt. Nachdem er alle Kameraden verraten hatte, nach 1945, hat er sich in der Zelle 36 aufgehängt .«
Maria Zeh erzählte, wie sie sich alleine in der Zelle mit Turnübungen beschäftigte, um nicht in Apathie zu verfallen, wie wichtig die Geräusche um sie herum waren, und dass man ständig Gefahr lief, in den Wahnsinn abzugleiten, weil auch die Gedanken keinen Fluchtweg hatten. » Da kam eine Biene in meine Zelle – in die dunkle Zelle eine Biene! Sie flog herum und wieder davon. Abends kam sie wieder rein, und dann hab ich mit ihr gesprochen: ›Auf welchen Wiesen warst du? Wo gibt’s hier die Auen? Hat es da draußen nach Gras gerochen?‹ Da war man so unglaublich erregt und war von einer solchen Lebenssehnsucht erfüllt. Man wusste ja, du bist eingeschlossen, aber manchmal war es auch so, als ob die guten Gedanken der Menschen wie ein warmer Mantel um einen waren. Es gab auch Hochstimmungen. Aber vor allem das Gefühl: Du hast niemanden verraten. Du wirst niemanden verraten! Man hat nicht nur gelitten, aber eben immer damit zu tun gehabt, nicht schwach zu werden. Das Schlimmste war die Hitze. Gegen die Kälte konnte man Kniebeugen machen und turnen, aber die Hitze und bloß so ein bisschen Wasser, gerade genug für einen Vogel, sich zu waschen .«
Am 25. Februar 1938 fand ihr Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart statt. Nach ihrer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« wurde sie noch im Februar 1938 in das Frauengefängnis Gotteszell verlegt. » Dort kam ich auch wieder in Einzelhaft, mit Steinboden, schwerer Arbeit, keine Zeit für Turnen, schlechter Verpflegung. Dort bin ich zusammengebrochen; ich hatte hohes Fieber. Als meine Strafe rum war, bin ich aber nicht heimgekommen, sondern da hieß es: Ich komme ins KZ !«
Nach insgesamt achtunddreißig Monaten Einzelhaft – mehr als zweieinhalb Jahren alleine in der Zelle – wurde Maria Zeh in das KZ Lichtenburg an der Elbe überführt. » Auf dem Transport hab ich Frauen getroffen, die hatten Illusionen: Wir kommen auf ein Schloss. Aber nach dem, was ich erlebt hatte in den achtunddreißig Monaten, konnte ich mir das nicht vorstellen. Die Lichtenburg war ein altes, vermodertes Schloss bei Torgau. Als wir dort ankamen, hieß es, rechts die Kommunisten, links die Juden. Da gab es gleich Schläge mit der Peitsche, Zimmer 6hat die geheißen, von der wurden wir gleich durchgeprügelt. Viele sind gar nicht mehr hochgekommen. Ich kam auf einen Strafarbeitsblock. Dort musste ich vierundzwanzig Öfen heizen und nebenher Syphiliskranke im Endstadium und solche mit offener Tbc pflegen. Das hab ich so lange gemacht, bis ich derart geschwollene Arme und Beine hatte, dass ich nicht mehr konnte. Dann kam ich ins Revier. Dort hat mich der Arzt angeschrien, Sonntag 7hieß der: ›Warum melden Sie sich nicht?‹ Und ich hab gesagt: ›Mir hat man achtunddreißig Monate lang gesagt, ich verrecke hier, und jetzt hab ich gedacht, das ist der Anfang.‹ Doch dann hat mich die Oberschwester Margarete ins Revier genommen, und da hab ich gemerkt, dass mir vieles fehlte. Ich hatte wohl einen Kurs in Krankenpflege mitgemacht als junges Mädchen, aber Wörter wie Hexamethylen, Tetramine usw. kannte ich nicht .«
Die Frauen-Konzentrationslager
Bis zur Zeit der ersten Begegnungen mit Maria Zeh in den Jahren 1978/1979 hatte ich – damals 24-jährig – noch nie von der Existenz reiner Frauen-Konzentrationslager gehört. Zwar war ich in mehreren KZ-Gedenkstätten gewesen, doch hatten mich dabei weniger die Orte, sondern vielmehr die Menschen interessiert, die dort während der Nazizeit eingesperrt waren. Erst 1983 besuchte ich die Kleinstadt Moringen in der Nähe von Göttingen, wo sich von Oktober 1933 bis März 1938 das erste Frauen-KZ befand. Unfassbar war für mich die Lage des riesigen Gebäudekomplexes 8unmittelbar an der Hauptstraße der kleinen Stadt. Als Moringen – konzipiert für ca. 400 Häftlinge – nicht mehr ausreichte, um die inhaftierten Frauen aufzunehmen, wurde Ende 1937 das Frauen-KZ Lichtenburg eröffnet.
Maria Zeh, die im August 1938 in die Lichtenburg kam, gehörte zu den ersten Häftlingen in diesem neu errichteten Frauen-KZ. Ende 1938 waren dort ca. 800 Frauen eingesperrt. Das Lager verfügte anfangs über einen Lagerkommandanten, 26 Aufseherinnen, eine Ärztin, einen Arzt, eine Krankenschwester und vier Hilfsschwestern im Krankenrevier. 9» Im Revier hatten wir als Häftlinge eine große Macht. Man wusste ja gleich, wer Genossin ist, wer Verräter ist und so – da konnte man die Leute, die schwerste Arbeiten verrichten mussten, für ein paar Tage ins Krankenrevier stecken. Manche sind natürlich doch gestorben, weil sie wirklich krank und elend waren. Ich erinnere mich an eine Bibelforscherin. Der SS-Mann hat sie so gestoßen, dass sie aus der Nase geblutet hat. Da sagte sie: ›Herr, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.‹ Am andern Tag saßen wir bei unserem kärglichen Mahl, da kam die Oberin und sagte: ›Was Sie jetzt sehen, dürfen Sie niemandem sagen.‹ Sie hat uns ins Kellerverlies geführt, und da lag diese Bibelforscherin. Sie lag auf einem Betonbett. Das kann man nicht beschreiben, in dieser Uniform, die wir hatten, wir sahen ja gar nicht mehr wie Frauen aus. Wir mussten sie ausziehen. Sie war grün und blau am ganzen Körper, zusammengeschlagen, totgeschlagen. Da dachte ich, ich kann nicht mehr, hab gezittert und trotzdem gewusst: Das nützt niemandem, wenn ich jetzt zusammenbreche. Es muss ja weitergehen. Vor allem müssen die Kameradinnen wissen, was da unten geschieht. Obwohl die Aufseherin gedroht hatte, dass wir selbst da runter kommen, wenn wir darüber sprechen, hat man gleich den Genossinnen gesagt, was sich da unten abspielt. Das werde ich nie vergessen. Das lässt mich noch heute nachts aufwachen. Ich muss dann genau sehen, wo ich bin, weil es Dinge gibt, da kann man nicht mit Worten benennen, was da in einem vorgeht. Ich kann’s nicht. Es ist nach so vielen Jahrzehnten immer noch da, so tief sitzt das. Die Haftpsychosen haben wir einfach. Manchmal, am schönsten Tag, kann ich nicht aus dem Haus gehen, obwohl ich die Natur so liebe. Das sitzt so tief, dass ich die Wohnung nicht verlassen kann. Aber wenn man im Revier war, konnte man den Menschen helfen. Da konnten wir auch den Jüdinnen helfen. Wir haben Arznei und alles geklaut. Ich hatte den Schlüssel zur Apotheke, denn ich hatte das Vertrauen der Oberin. Sie hat mir gesagt, sie habe sich die Häftlinge anders vorgestellt. Man habe sie geworben, um den Abschaum der Menschheit zu bewachen, und nun war sie erstaunt über die ›Qualität‹ der Häftlinge .«
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