Mit einem Blick in unsere Zeit erleben wir das Problem eines wissenschaftlichen Denkens, das sich ganz auf das Entweder-Oder stützt, obwohl die Wirklichkeit ständig das Sowohl-als-Auch erfahren lässt. Es kann nur Tag oder Nacht sein. Oder? Nein, während es bei uns Tag ist, ist es an anderer Stelle auf der Erde Nacht. Das Entweder-Oder existiert nur für den Raum, das Räumliche, für die Zeit gilt das Sowohl-als-Auch. Beides verbindet sich in einer Dimension, die über Raum und Zeit hinausführt, in der Bewusstseinsseele.
Es ist für das mittlere Seelenglied so wichtig, dass aller Verstand, der auch Träger des Intellekts ist, immer durchdrungen wird von dem Gemüt. Dieses gibt dem Verstand die Wärme, die zum Verstehen wird. Ohne Gemüt wird der Verstand kalt und tendenziell zerstörerisch. Er will dann erobern anstatt zu verstehen. Und auch das Gemüt möchte immer durchdrungen sein vom Verstand, was in dem Gralsgeheimnis bildhaft anschaulich wird, wenn der Mensch durch Mitleid wissend wird.
Mitgefühl
Mitleid oder Mitgefühl sind dann gesund oder auch christlich, wenn sie zur Tätigkeit, zum Handeln im Helfer führen. Das ist einzigartig am Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25–37) nacherlebbar. Barmherzigkeit ist ein Ausdruck für das Zusammenwirken von Verstandes- und Gemütsseele, und es ist kein Zufall, dass sie mit dem Herzen verbunden ist.
Wieder muss ich einfügen, dass eine ausführliche Darstellung, zum Beispiel auch mit Blick des Arztes auf Gesundheit und Krankheit von Seele und Leib, hier unterbleiben muss, weil es um das Alter und die mit ihm verbundene Entwicklung geht. An anderer Stelle kann der Leser mehr darüber finden. 22
Bewusstseinsseele Aufforderung zur Selbsterkenntnis
Es sei noch kurz auf die Bewusstseinsseele geschaut. Gelegentlich sprach Steiner auch von einer Selbstbewusstseinsseele. 23Und darauf kommt es an. Bewusstsein durchzieht die ganze Seele, auch die beiden anderen Seelenglieder. Doch dieses Bewusstsein ist auf die Welt gerichtet, träumend-empfindend in der Empfindungsseele, klar und sachlich auf die Welt außerhalb des Menschen, die ihn umgibt, in der Verstandesseele. In der Bewusstseinsseele richtet sich das Bewusstsein nun auf das eigene Selbst, in ihm liegt die Frage »Wer bin ich?«, die Aufforderung zur Selbsterkenntnis. Ich habe das immer den Schritt vom Ich zum »Ich-Bin« genannt, die Frage nach der Existenz, die zugleich die Frage nach dem Träger des göttlichen ICH-BIN ist, dem Christus. Die Bewusstseinsseele bereitet ein Bewusstsein vor, das uns direkt wieder in die Geisterfahrung führt, wo Geist und Natur, heute Materie genannt, nicht getrennt sind, sondern gemeinsame Schöpfung. Die Bewusstseinsseele wird aus dem rückwärts gerichteten Durchlaufen des Stoffleibs gebildet, das Ich arbeitet sie im Durch- oder Eindringen in die Stoffeswelt des physischen Leibes heraus. Es erlebt vom Innersten das Wesen und die Schöpferwelt der Stoffe und ihre Schönheit. Sind schon die stofflichen Offenbarungen der Natur oft überwältigend, die großartige Welt der Kristalle, die Metalle, der Zauber von Pflanzenblatt und -blüte, die Tiergestalten und ihre Bewegungen – wie viel faszinierender ist der Menschenstoff unseres Körpers: ein rotes Blutkörperchen, ein Knochenbälkchen, ein Leberläppchen, die Aufzählung könnte schier endlos fortgesetzt werden.
Materialismus
Dieses Eindringen und Verweilen in der Stoffeswelt ist der entwicklungsgeschichtliche Ursprung des Materialismus, der als Weltanschauung mit der Bewusstseinsseelenentwicklung zeitlich zusammenfällt. Und hier liegt auch eine starke Gefährdung des Menschwerdens. Es fielen die Worte »überwältigend« und »faszinierend«. Das Ich kann in diesem Erleben stecken bleiben. Dann sieht es die Welt im Sinne des Materialismus. Sein Weg muss jedoch weitergehen, den in dem Stoff schöpferisch gestaltenden Geist zu entdecken, was mit anderen Worten heißt, den Geist als Ursprung alles Stofflichen zu erkennen. Nicht »Ohne Körper gibt es keinen Geist« (siehe Seite 15) muss es heißen, sondern »Ohne Geist gäbe es keinen Körper, keine Materie, nichts Sinnlich-Erscheinendes«.
Geisterkenntnis bei vollem Wachbewusstsein
Die Bewusstseinsseele wird das Ich wieder zur Geisterkenntnis leiten, bei vollem Wachbewusstsein, mit kritischem Verstand, aber auch flammendem Gemüt und starken Empfindungen. Denn die Seele ist Eins, alles wirkt in das Andere, tönt mit dem Anderen, bekommt seine Färbung von ihm.
Die Entwicklung des Geistes (7. bis 9./10. Jahrsiebt)
Geistesglieder erst als Anlage vorhanden
Auch das Geistige gliedert sich im Menschen in ein Geistselbst, einen Lebensgeist und einen Geistesmenschen. Diese drei Glieder sind heute nur veranlagt, und der Mensch kann im 7. bis 9. Jahrsiebt an ihnen vergleichsweise so arbeiten, wie ein Gärtner eine Saat gießt und pflegt, lange ehe sie zu keimen beginnt, ehe das Wachstum und die Ausgestaltung der Pflanze erfolgt und sehr lange bevor sie dann reift und Frucht trägt. Doch würde die Saat nicht gepflegt, würde alles Folgende gar nicht geschehen können. So ist es auch mit den Geistanlagen des Menschen, und ihre Pflege erfolgt idealerweise in der Zeit vom 42. bis zum 63. Lebensjahr.
In dieser Zeit arbeitet das Ich wieder zeitlich rückwärts gerichtet an den Seelengliedern und zugleich an den Leibesgliedern, um diese Geistanlagen zu befruchten und ihre spätere Entwicklung vorzubereiten. Das Ich ist ja selber Geist, in seiner Wesenheit reiner Geist und im eigentlichen Sinne Kern des Menschen. Doch es bereitet sich die Gewänder, mit denen es sich bis zum Erreichen einer Vollkommenheit kleidet. Rudolf Steiner nannte diese 3 x 3 Leibes-, Seelen- und Geistesglieder in seinem zentralen Buch einer geisteswissenschaftlichen Menschenkunde Theosophie Hüllen. 24Wir können von Werkzeugen für den Leib und von Instrumenten für die Seele sprechen, für die Geistglieder fehlt ein sie erhellender Begriff. Interessant, dass das altgriechische Wort organon »Werkzeug« bedeutet und unser Organbegriff davon abgeleitet wurde.
Voraussetzungen für die Geistesglieder
Das Geistselbst hat zu seiner Voraussetzung die Bewusstseinsseele und den Empfindungsleib, der Lebensgeist Verstandes- und Gemütsseele und den Lebensleib, der in fernsten Zeiten entstehende Geistesmensch Empfindungsseele und den Stoff- oder physischen Leib. Hier verzichte ich auf weitere Versuche einer detaillierten Beschreibung, weil diese nicht nur aus dem Denken entstehen darf, sondern Anschauung sein sollte. Doch ist es wichtig, jeden Schritt der Geistesentwicklung in den drei Jahrsiebten zu beschreiben und zugleich den Hintergrund zu kennen, für den diese Schritte getan werden. Das wird dann im nächsten Hauptkapitel, das ganz das Alter in den Blick nimmt, folgen (siehe Seite 49ff.).
höhere Lebenserwartung
Es sei noch ein Blick auf das 10. Jahrsiebt gerichtet, welches die Reihe der 3 x 3 Jahrsiebte nicht nur abschließt, sondern vollendet. Denn im idealtypischen Sinne einer Rhythmik, die – so wie hier dargestellt – für unsere Entwicklungsepoche laut Rudolf Steiner von etwa 1450 bis 3500 n.Chr. gilt, währt der Lebenslauf des Menschen diese 70 Jahre. Dann ist er »Vollmensch«.
Wir wissen alle, dass Menschen heute oft viel länger leben, schon die durchschnittlichen Lebenserwartungen, etwas unterschiedlich für Frau und Mann, gehen deutlich darüber hinaus. Was dieses »Hohe Alter«, das den eigentlichen Lebenslauf übergreift, in der Entwicklung zu bedeuten hat, wird später noch dargestellt werden (siehe Seite 75ff.). Dieses letzte Jahrsiebt vom 63. bis zum 70. Lebensjahr ist wie eine große Zusammenfassung der vorausgehenden neun. Alles wird zu Einem, jetzt ist das diesmal gelebte Leben rund und – wenn alles gut gegangen ist, was eher die Ausnahme darstellt – der vorgeburtlich gefasste Lebensplan erfüllt.
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