Entwicklung von Leib, Seele und Geist
Die ersten 21 Jahre braucht der Mensch für seine ganz zur Individualität führende Leibesentwicklung. Gleiches gilt für die folgenden 21 Jahre der Seelenentwicklung, und dann folgt im Ansatz die Geistentwicklung. Und alles baut auf das Vorhergehende auf, wie noch beschrieben werden soll. Während ein Anteil unseres Menschseins sich aufsteigend entwickelt, sind vorausgegangene Erreichnisse eventuell schon wieder in ihrer absteigenden, devolutionären Entwicklung. Denn der Mensch ist mit seiner Geburt Leib, Seele und Geist. Sie sind immer gemeinsam da, doch bilden sie in der Zeit Unterschiede ihrer Entwicklung. Bestimmend dabei ist die Individuation.
Impulse der Individuation
Steiners großartiges Bild ist der von den Eltern und auch Voreltern gegebene Leib als ein »Modell«, das in 3 x 7 Jahren zum Individualleib umgestaltet wird. Der Gestalter sind wir selbst, wir als Geistseele, deren Keim das rein geistige Ich ist. Von ihm gehen alle Impulse der Individuation aus, die bis in alle einzelnen Zellen hineinreicht. Diese von Steiner geisteswissenschaftlich erforschte Tatsache ist im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll von der naturwissenschaftlichen Forschung bestätigt und als Immunsystem hochdifferenziert beschrieben worden. Das Grundgesetz heißt: »Das Selbst erkennt alles Nichtselbst.« Das Selbst ist unser Ich, alles Fremde wird davon abgegrenzt. Es wird durch die im Immunsystem wirkenden Kräfte entweder eliminiert (ausgeschieden), oder es wird aus Fremdem zu Eigenem gemacht, was zum Beispiel mit der Nahrung geschieht.
Individuation und Immunität
Kein Nahrungsstoff darf in uns der oder das bleiben, was er in der Natur geworden ist oder heute auch im Labor synthetisiert wurde. Man kann hier auch auf die modernen synthetischen Arzneimittel schauen. Diese von mir Aneignung genannte Tätigkeit des Immunsystems nennt die Physiologie Verdauung. Sie ist eine der wichtigsten Funktionen aller Immunität. Und so betrachtet wird das Immunsystem auch am stärksten in der frühen Kindheit und Jugend in Anspruch genommen, wenn sich die Bildung des ganz speziellen, einzigartigen Individualleibs vollzieht.
Dass dies eine – wenn auch staunenswerte – Tatsache ist, hat wieder die medizinische Wissenschaft bewiesen, als sie die Organtransplantation entwickelte. Kein Organ ist leiblich-stofflich mit einem anderen identisch, es gibt nur mehr oder weniger Ähnlichkeiten. Immer muss das transplantierte Organ durch starke immununterdrückende (-suppressive) Medikamente vor dem durchaus aggressiv reagierenden Immunsystem des Empfängers bewahrt werden, welches das ihm fremde Organ »abstoßen« will und diese Intention auch über lange Jahre nicht aufgibt, sodass die Immunsuppressiva lebenslang genommen werden müssen. Eine Ausnahme bilden sehr kleine Kinder, bei denen – allerdings auch in längeren Zeiträumen – eine Assimilation des fremden Organs erfolgen kann. In der Kindheit sind eben – um an den Ausgangsgedanken anzuknüpfen – zunächst alle Organe fremd, stammen von Eltern, und müssen allmählich, das heißt in rund 20 Jahren, zu eigenen verwandelt werden.
physisch-stoffliche Organisation Lebensorganisation Empfindungsleib
Der Leib ist in sich gegliedert in eine physisch-stoffliche Organisation, die auch als Morphe oder morphologisch bezeichnet wird. Sie ist der entscheidende Bereich für die Leibvorstellung der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, die auch Schulmedizin genannt wird. Hier kann sie messen, wiegen und zählen, hier lassen sich Befunde erstellen. Dieser physisch-stoffliche Anteil des Leibes wird durchzogen von einer Lebensorganisation, die für alle Funktionen verantwortlich ist und sich im Befinden äußert. Beide bilden von der Geburt bis zum Tod, ja einige Tage über ihn hinaus, eine untrennbare Einheit, sie sind der Leib im engeren Sinne. Doch wirkt eine dritte eigenständige Organisation in beide hinein, die Träger unserer Empfindungen ist und zugleich Verbindungsglied zur Seele. Dieser Anteil des Leibes kann Empfindungs- oder auch Seelenleib genannt werden, wie die ersten beiden Stoff- oder physischer Leib bzw. Lebens- oder Funktionsleib.
Der Empfindungsleib ist extrem feinstofflich, Steiner verglich ihn mit der Dichte von Luft, wir können auch sagen feiner Gase. Er hat wesentlichen Anteil an der Immunität, speziell der spezifischen Abwehr durch feinste Stoffe, die auch Antikörper genannt werden. Er äußert sich seinem Namen entsprechend in der Welt unserer Empfindungen, die wir auch als Instinkte, Triebe, Begierden, Lust und Unlust, Schmerz, Hunger und Durst bezeichnen, und übergeordnet durch unsere leibliche Gestimmtheit. Es ist hier nicht beabsichtigt, eine ausführliche und differenzierte Darstellung des Leibes zu geben, das ist andernorts geschehen und dort nachlesbar. 16Wir brauchen aber die Grundbegriffe, um die Entwicklungsschritte und Metamorphosen der ersten 21 Jahre nachvollziehbar beschreiben zu können. Denn auf ihnen bauen die späteren auf, die schließlich zu der Epoche des Lebenslaufs führen, die wir Alter nennen.
Die Entwicklung des Leibes (1. bis 3. Jahrsiebt)
Ich-geprägte Entwicklung
Diese vollzieht sich also in drei großen Zyklen von jeweils sieben Jahren mit dem Ziel, alles, jede einzelne Zelle, die Organe und alle Gewebestrukturen wie Knochen, Nerven, Muskulatur ganz Ich-geprägt zu entwickeln und schließlich nichts mehr als Leib an sich zu haben, das noch fremd ist, von Eltern oder Vorfahren stammt.
Überwinden alles Fremden
Das beginnt im 1. Jahrsiebt mit der physisch-leiblichen Struktur, die wir Stoffleib nannten, auch Körper im engeren Sinne. Alles von der Genetik der Eltern geprägte Stoffliche muss zu etwas Eigenem, Individuellem werden. Der elterliche Anteil wird entweder abgebaut und ausgeschieden und durch eigene Zellen bzw. Gewebe ersetzt, oder das Elterliche wird umgeschmolzen und in Eigenes verwandelt. Dabei schult sich das Immunsystem, von dem dargestellt wurde, dass das Überwinden alles Fremden eine seiner Hauptaufgaben ist. Hierbei haben – heute muss ich fast sagen hatten – die sogenannten Kinderkrankheiten und besonders die hochfieberhaften eine wichtige Funktion. Das Abstoßen und Umschmelzen war wie ein Verbrennen durch das Fieber, wie eindrucksvoll am Beispiel der Abschuppung der gesamten Haut im Ablauf einer Scharlacherkrankung zu sehen ist. Wie oft erlebten die Eltern an ihrem Kind einen damit verbundenen Entwicklungsschritt oder auch eine starke äußere Veränderung, wie sie Goethe so köstlich in Dichtung und Wahrheit beschreibt, nachdem er die Pocken durchgemacht hatte. Eine Tante, die ihn bis dahin immer so entzückend fand, nennt ihn nun nur noch »garstig«. 17Am Ende der ersten sieben Jahre ist im Idealfall alles ursprüngliche Gewebe als Stoffliches zumindest einmal vollständig ausgetauscht. Und auch der härteste Stoff, den der Leib in den Zähnen bildet, wird dann im sogenannten Zahnwechsel ausgetauscht.
Individualisierung der Lebensorganisation
Im 2. Jahrsiebt wird die ebenfalls von den Eltern und Vorfahren mitgegebene Lebensorganisation individualisiert. Hier ist es weniger Elimination wie beim Stoffleib, sondern Verwandlung. Die ureigene Lebensorganisation, die bereits im Vorgeburtlichen mithilfe hierarchischer Wesen aus dem großen Lebenskosmos herausgesondert wurde, durchdringt nun die elterliche, verbindet sich mit ihr und verwandelt sie zu Eigenem. In dieser Zeit der Schulreife hat jeder Mensch einen Überschuss an Lebenskräften, weil die eigenen und die der Eltern sich potenzieren. Es ist daher auch die Phase mit den größten Gesundheitskräften während des ganzen Lebens.
Etwa in der Mitte dieser Zeit wird ein Teil von den Lebenskräften abgesondert und stellt sich dem Denken zur Verfügung, wird zu Denkkräften. Erst von dieser Zeit an sollte pädagogisch das Lernen mehr und mehr über das Denken erfolgen, der Intellekt erzogen werden. Vorher ist ein mehr spielerisches, bildhaftes Lernen angemessen. Das findet sich in der Waldorfpädagogik wieder.
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