Steiner sprach unmissverständlich aus, dass nur der Leib oder Körper altert: »Und nur des Leibes Schicksal auf Erden ist es, alt zu werden.« 4 Die Seele dagegen ist jung und bleibt es, ja sie kann sogar immer jünger werden, wenn sie aus ihrer Gesetzmäßigkeit in gesunder Korrespondenz mit Leib und Geist existieren kann und nicht zum Beispiel zunehmend vom Leib dominiert wird.
Mensch als Werdender
Steiner machte in seinem umfassenden Werk auch auf eine weitere Wirklichkeit immer wieder aufmerksam: die in seiner Zeit aufkommende Idee der Evolution, wie sie sich mit Namen wie Charles Darwin, Ernst Haeckel oder aus christlicher Sicht Teilhard de Chardin verbindet. Auch er selbst beschrieb eine Entwicklungsgeschichte von Mensch und Welt 5und definierte den Menschen als Werdenden, nicht als Seienden. Und er weitete unseren Blick über die Grenzen der Geburt oder Empfängnis und des Todes oder Lebensendes hinaus in eine real zu erfassende Welt der Vorgeburtlichkeit und Nachtodlichkeit, hin zu einer Existenz oder auch eines Lebens zwischen Tod und erneuter Geburt und damit der Gesetzmäßigkeit der Wiederverkörperung oder Reinkarnation. So wird der Mensch Teil der großen Evolution der Schöpfung, die er von ihrem Anfang bis an ihr Ende als Einzelner, als Individualität mitmacht. Denn er – der Mensch – ist Mittelpunkt und Ziel dieser Evolution und kann so nur als ein sich Entwickelnder, Werdender verstanden werden. Eine Grundgesetzmäßigkeit aller so gewollten Evolution ist der Rhythmus oder die Fülle unterschiedlicher Rhythmen.
Veranlagung zur Freiheit
Ein weiteres Phänomen zum Verständnis des Menschen und so auch der Perspektive des Alters ist die Freiheit. Der Mensch wird durch die Schöpferkräfte zur Freiheit veranlagt, doch es ist ein (unvorstellbar) langer Weg bis zu ihrer Realisation. Wir werden sehen, wie sehr der Erwerb der Freiheit mit dem Alter zusammenhängt. Nun ist aber gerade der Aspekt der Freiheit das Tor, durch das Kräfte an den Menschen herandrängen, die eine solche Entwicklung verhindern oder in die Irre führen wollen.
Somit schauen wir auf mehrere Phänomene des Menschseins und -werdens als Voraussetzung, Alter zu verstehen. Wir wollen sie nun noch etwas ausführlicher betrachten, ehe dann in den darauf folgenden Kapiteln der Lebenslauf (die Biografie) und deren Anteil des Alters detaillierter dargestellt werden.
Leib, Seele und Geist
Ohne ein gründliches Verständnis der Dreiheit von Leib, Seele und Geist ist der Mensch und damit auch der Lebensabschnitt des Alters nicht zu erfassen. Die Drei ist Ausdruck einer zentralen Kraft aller Schöpfung. Im Christentum begegnen wir ihr in der Trinität Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Im Menschen erscheinen diese Schöpferkräfte in der Trichotomie von Leib (Vater), Seele (Sohn) und Geist. Sie realisieren sich auch in der Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch das findet sich im Menschen als die Abschnitte von Kindheit und Jugend, vom Erwachsensein und dann vom Alter wieder. Wir können einen ersten Aspekt davon erhaschen, dass Alter sich mit Zukunft verbindet, so wie die Kindheit mit Vergangenheit. Das wird natürlich noch ausführlicher begründet werden.
funktionale Dreigliederung
Eine weitere schöpferische Dreiheit entdeckte Rudolf Steiner nach langer Forschungszeit im menschlichen Leib in den lebendigen Funktionen des Organismus. Er nannte sie funktionale Dreigliederung und beschrieb sie in drei Systemen. Eine Polarität bilden alle Sinnes-Nerven-Prozesse und alle Stoffwechsel-Bewegungs-Vorgänge (Sinnes-Nerven-System und Stoffwechsel- Bewegungs-System). Diese Polarität wird ständig ausgeglichen bzw. im Gleichgewicht gehalten durch rhythmische Prozesse (Rhythmisches oder auch Atmungs-Zirkulations-System). Diese drei Systeme bilden zusätzlich zu ihren funktionellen Tätigkeiten die leibliche Grundlage für alle seelischen Vorgänge, die den Leib zu ihrer Offenbarung brauchen. Wir kennen sie als in sich differenzierte Ganzheiten von Denken, Fühlen und Wollen. 6
Denken, Fühlen und Wollen Ahriman und Luzifer
Ganz behutsam sei auf eine weitere Dreiheit verwiesen, die später noch deutlicher angesprochen werden wird. In ihr bildet der Mensch die ausgleichende Mitte zwischen zwei Geistwesen, die seit langen Zeiten Ahriman und Luzifer genannt werden. Ihnen gab Goethe in Mephistopheles eine gemeinsame Gestalt, die real geschaut eben zwei sind. Das wird auch in dem Namen Mephistopheles deutlich, abgeleitet von mephiz (Hinderer, Verderber) und tophel (Lügner). Goethe hat ihre unterschiedliche Art Mephistopheles auch aussprechen lassen, denn er bezeichnet sich sowohl als Kraft, die das Böse will und doch Gutes schafft, und zugleich als einen Geist, der stets verneint. 7Traditionell werden Ahriman und Luzifer als Ausdruck des Bösen bezeichnet, als Satan und Diabolos. Und im Sündenfall und seinen Folgen sind diese Kräfte der Versuchung, den Menschen von seinem vorgesehenen Weg durch Hindernisse, Täuschungen oder Irrwege abzubringen, imaginativ-bildhaft dargestellt. Es sind jedoch auch Kräfte der Schöpfung und als Widerstände (Widersacher) oder Versucher ganz notwendige Elemente zum Erwerb der Freiheit. In seiner Menschwerdung wird der Gottessohn Christus auch als Erstes den Versuchern gegenübergestellt (Matthäus 4,1–11).
Die göttliche Schöpferwelt wird weiter gegliedert in drei Hierarchien, die wiederum jeweils drei Gliederungen umfassen, also 3 x 3 = 9 hierarchische Ordnungen bilden (Dionysius der Areopagit). 8
Entwicklung hat immer Anfang und Ende, in der Apokalypse des Johannes als Alpha und Omega bezeichnet, erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabets. Entwicklung hat immer ein Ziel, durch Christus »bis zur Vollendung der Erdenzeit« (Matthäus 28,20) genannt, in der Apokalypse Neues Jerusalem.
auf dem Weg zu einem Ziel sein
Entwicklung heißt auch, auf dem Weg zu sein, auf dem Weg zu einem Ziel bzw. zu seinem Ziel, denn davon gibt es viele. Und »Ziel« bedeutet nicht »Ende«, denn jedem Ende steckt der Zauber eines neuen Anfangs inne, wie es Hermann Hesse formulierte. 9
Am Menschen ist Entwicklung so einfach mit den Augen abzulesen: Zwei Zellen vereinigen sich durch Mutter und Vater und bilden den Keim, aus dem dann – wenn wir ehrlich sind – die unfassbare Gestalt eines Menschen wird, erst als Kind, als Jugendlicher, junger Erwachsener bis hin zum Greis. Wir können das Gleiche aber auch an einer Eichel erleben: Kann man fassen, wie daraus einst ein großer, knorriger Eichbaum wird? Und diese Bilder ließen sich fast ohne Ende vermehren.
Diesen Kräften der Entwicklung begegnet ein gesund empfindender Mensch mit einer Seelenkraft, die ganz aus der Kindlichkeit seines seelischen Wesens stammt: dem Staunen. Denn alle Entwicklung ist staunenswert. Ihre Grundelemente sind Entstehen (Werden) und Vergehen, aber auch Metamorphose und Steigerung, wie Goethe sie für die Pflanze beschrieb. Beim Menschen gliedert sie sich in leibliche, seelische und geistige Entwicklungen, und wir werden sehen, wie diese sich in unterschiedlichen Zeitabläufen und unterschiedlicher Intensität vollziehen.
Rhythmus als Grundelement aller Entwicklung
Und damit sind wir auch schon beim Rhythmus als weiterem Grundelement aller Entwicklungen. Rhythmus kann beschleunigen, verlangsamen, im Kreis (Kreislauf) oder spiralig führen, kann anschwellen und abklingen, wie wir es am unmittelbarsten aus der Musik kennen. Diese kann ein großartiger Lehrmeister zum Verständnis von Rhythmus sein. Wie unterschiedlich erleben wir den Dreivierteltakt des Walzers oder den Viervierteltakt des Militärmarsches. Wobei »Takt« hier eigentlich ein falscher Begriff ist, denn Takt ist nicht Rhythmus. Takt ist mechanisch, zum Beispiel beim Viertaktmotor eines Autos. Rhythmus ist immer lebendig, zum Beispiel als Atmung. Rhythmus ist immer voller Variationen, und so nennt die moderne Physiologie die gesunde menschliche Atmung auch »respiratorische Arrhythmie«, weil sie eben nie maschineller Takt ist wie beispielsweise bei einer maschinellen »künstlichen« Beatmung auf einer Intensivstation.
Читать дальше