Nichts kann aus Sicht von Patienten so quälend und lähmend sein wie Ungewissheit, aus Sicht eines Arztes in gewisser Weise auch, wobei die „Lähmung“ des Arztes eher einem Ansporn weicht, die korrekte Diagnose zu finden. Ungewissheit beherrscht die Gedanken, setzt sich im Kopf fest und raubt den Schlaf. In dem Maß, in dem die Ungewissheit wächst, sinkt der Glaube an eigene Stärke. Diese Ungewissheit kann sicherlich zermürbender sein als selbst die Kenntnis einer sehr ungünstigen Diagnose. Es schien so, als ob die Patientin an genau diesem Punkt angelangt war. Wir führten ausführliche Gespräche, ich versuchte, sie in jede unserer Überlegungen und Entscheidungen mit einzubeziehen. So entwickelte sich eine sehr offene, ehrliche Beziehung zwischen Arzt und Patientin. Sie blieb geduldig, sie vertraute uns. Und mir ließ sie keine Ruhe. Patienten mit einem solch ungeklärten Krankheitsverlauf verfolgten mich gedanklich nicht selten bis in meine eigenen vier Wände.
Also setzte ich mich zu Hause spät abends vor dem Schlafengehen noch vor meinen großen, alten Bücherschrank und durchstöberte mehrere dicke internistische Fachbücher nach Erkrankungen mit wiederkehrenden Fieberschüben, zum Beispiel verschiedene rheumatische Erkrankungen, wie auch viele andere Krankheiten. Draußen war es bereits Nacht geworden, durch die geöffnete Balkontüre wehte ein Hauch frischer Nachtluft in den Raum. Die zugezogenen Vorhänge wiegten sich leise im Wind. Hin und wieder bellte draußen ein Hund auf der Straße, ein später Heimkehrer fuhr mit dem Auto vorbei. Ein aufgeschreckter Vogel flog laut rufend durch den Garten. Im Haus war es ganz still, meine Familie schlief schon lange. Für den kommenden Tag machte ich mir einige Notizen für ergänzende Blutuntersuchungen, bevor ich mein nächtliches Studium beendete.
Ich war zu dem Ergebnis gekommen, dass der Schüttelfrost, der die Fieberschübe meiner Patientin begleitete, wie auch die Höhe des Fiebers eindeutig für eine bakterielle Infektion sprachen, obwohl wir diese Bakterien bislang noch nicht hatten nachweisen können. So macht man sich als Arzt auch in seiner Freizeit weit mehr Gedanken, als mancher Patient glauben mag. Besonders die ungeduldigen Patienten, oder eben auch Patienten mit einem langwierigen Krankheitsverlauf, ließ ich bisweilen einmal wissen, dass sie mich bis in solche späten Nachtstunden beschäftigten. Hierdurch wich häufig ihre Ungeduld einem besseren Verständnis für die besonderen Herausforderungen der Diagnosestellung und Behandlung.
Selbst der alte, erfahrene Chefarzt war mittlerweile ziemlich ratlos. Bei seiner nächsten Visite ordnete er an, dass sämtliche Untersuchungen bei unserer Patientin zu wiederholen wären. Dazu gehörten leider auch die Erhebung der Krankenvorgeschichte und der körperliche Untersuchungsbefund. Vor meinen Augen, aber wenigstens nicht vor der Patientin, zerteilte er meine zeitaufwendig und akribisch ausgefüllten mehrseitigen Formulare in immer kleinere Schnipsel. Ungläubig und hilflos stand ich daneben und musste die Vernichtung meiner Aufzeichnungen mit ansehen. Es half nichts, wir mussten noch einmal ganz von vorne beginnen. Wir ließen die Patientin bewusst auffiebern, indem wir die bisherigen Antibiotika vollständig absetzten, und nahmen dann erneute Blutkulturen sogar auch nachts zum Zeitpunkt des Fiebergipfels ab. Inzwischen vermuteten wir schon, dass irgendwo im Körper dieser Patientin sozusagen ein Nest oder Depot von Bakterien sitzen musste, aus dem die Bakterien mit dem Blutstrom in andere Organe, in diesem Fall die Lunge, geschwemmt wurden. Dieser Vorgang wird Sepsis, im Volksmund Blutvergiftung, genannt. Die Sepsis ist unbehandelt ein lebensgefährliches Krankheitsbild. Nur fehlte uns dafür eben der Beweis, wir mussten zwingend die Bakterien im Blut finden. Auch das Ergebnis der mehrfach entnommenen neuen Blutkulturen blieb jedoch negativ. So setzten wir abermals ohne Bakteriennachweis ein anderes Antibiotikum ein und hatten Erfolg, auch diese Lungenentzündung bildete sich zurück. Alle, die Patientin, und nicht zuletzt auch wir Ärzte, waren erleichtert und guter Hoffnung.
Es folgte der nächste Fieberschub mit Schüttelfrost! Mittlerweile wurde der Krankheitsverlauf der Patientin natürlich im Arztkollegium bei den täglichen Besprechungen intensiv diskutiert, und wir kamen zu der Entscheidung, sie in die Uniklinik zu verlegen. Wir waren bei diesem ungeklärten Krankheitsverlauf deutlich an unsere Grenzen gestoßen, traten auf der Stelle, waren keinen Schritt weitergekommen.
Nur drei Tage nach der Verlegung erhielt ich von demjenigen Kollegen in der Uniklinik, dem ich den schwierigen Fall bereits vorab telefonisch ausführlich geschildert hatte, eine Rückmeldung: „Wir haben sofort neue Blutkulturen abgenommen, es wurden Streptokokken nachgewiesen.“ Mir verschlug es die Sprache. Ungläubig dachte ich darüber nach, wie das möglich sein konnte. In unseren zahlreichen Blutkulturen war nie der Nachweis von Bakterien gelungen. Wir waren also sehr wohl auf dem Weg zur richtigen Diagnose gewesen, aber die Blutkulturen hatten versagt. Wo konnte nur der Fehler liegen? Lag es an der Nährlösung in den Blutkulturflaschen, oder waren sie im Labor nicht adäquat angesetzt und untersucht worden, oder hatten sie auf dem Transport in das Fremdlabor gelitten? Und wie sollten wir überhaupt zukünftig vorgehen, wenn unsere Blutkulturen regelmäßig versagten? Ich war mehr als enttäuscht und auch erzürnt, unsere ganze wochenlange Mühe war vergeblich geblieben.
Solche Fragen musste ich immer sofort klären, ich führte zahlreiche Telefonate mit unserem eigenen Labor, wie auch mit dem Fremdlabor in der Mikrobiologie. Im Endeffekt habe ich das Rätsel der erfolglosen Blutkulturen nicht lösen können. Einige Wochen später erhielten wir allerdings neue Blutkulturflaschen von einer anderen Herstellerfirma, möglicherweise als direkte Folge dieser Geschichte. Die neuen Blutkulturen funktionierten dann einwandfrei, wir erhielten mit ihnen genau die Ergebnisse, die zu erwarten waren.
Der Nachweis ausgerechnet von Streptokokken, die sich auf den Kulturnährböden gerne kettenförmig anordnen und daher ihren Namen tragen, ist nicht so günstig, können sie doch allzu häufig zu einer Herzmuskelentzündung führen. Dies kann eine sehr heimtückische Krankheit sein, da sie nicht immer, wie eben auch bei unserer Patientin, im EKG zu erkennen ist. Und die Ultraschalldiagnostik des Herzens steckte damals gerade erst in ihren Anfängen. Mit Ultraschall hätte man die Diagnose leichter stellen können, da sich die Bakterien allzu gerne auf den Herzklappen ansiedeln.
Etwa drei Monate später kam die Chefarztsekretärin freudestrahlend, mit einer Tageszeitung über ihrem Kopf wedelnd, auf dem Stationsflur geradewegs auf mich zugelaufen. Sie war eine kleine, lebhafte Person, durchaus gutmütig, äußerst redselig und furchtbar neugierig. Sie musste ihre Nase rein überall hineinstecken, und dank dieser ungewöhnlichen Veranlagung wurde sie für uns Assistenzärzte zu der wichtigsten Informationsquelle unserer Abteilung. Nur die letzten Neuigkeiten der obersten Führungsebene, die sie nebenbei aufschnappte, behielt sie natürlich für sich, um sich keinen Ärger einzuhandeln. Über das aktuelle Stimmungsbarometer des Chefarztes waren wir aber stets zuverlässig informiert, ein nicht zu unterschätzender Vorteil besonders vor einer angekündigten Chefarztvisite. Ihre eigentlichen Pflichtaufgaben als Chefsekretärin erledigte sie im Handumdrehen, ihre flinken Finger flogen in einer schwindelerregenden Geschwindigkeit über die Tastatur des Computers. Ich hegte schon den ernsthaften Verdacht, dass sie sich dieses rasante Arbeitstempo nur angeeignet hatte, um genügend Zeit für ihr Hauptinteresse, nämlich den gepflegten Informationsaustausch, zu finden. Oftmals begann sie ihre Vorträge mit den bedeutsamen Worten „Stellen Sie sich nur vor …“ oder „Haben Sie schon gehört …?“, worauf postwendend ein ausführlicher Bericht über die letzte Neuigkeit folgte.
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