Viele Monate nach meiner grob fahrlässigen Verkehrswidrigkeit hatte ich wieder einmal Nachtdienst, und in dieser Nacht gab es nun wirklich überhaupt nichts zu tun. Ich saß gemütlich mit den beiden Nachtschwestern bei einer Tasse Kaffee zusammen. Diese friedliche und harmonische Runde wurde spät abends abrupt unterbrochen durch drei nebeneinandergehende Personen, die langsamen Schrittes über den langen Stationsflur auf uns zukamen. Die mittlere Person zeigte ein auffallend unsicheres Gangbild, ähnlich einem schwankenden Schiff auf stürmischer See, sodass sie von den Begleitern kräftig gestützt werden musste. Schon von Weitem erkannte ich sie alle drei, Gesichter konnte ich mir schon immer gut einprägen: Es handelte sich um den König der Landstraße mit langem Rauschebart und der üblichen kräftigen Alkoholfahne und um die beiden Polizisten mit der roten Kelle, die mich um die horrende Summe von zehn Deutschen Mark erleichtert hatten.
Sie konnten sich wohl nicht mehr an mich erinnern, denn an jenem Morgen hatten sie einfach zu viele Verkehrssünder zur Kasse bitten müssen. Sie fragten: „Guten Abend, könnten Sie bitte bei diesem Mann eine Blutprobe abnehmen?“ Darauf wollte ich erst einmal wissen, was er denn überhaupt ausgefressen hätte. „Der hat mal wieder randaliert“, erklärten sie. Ich flunkerte ein wenig und teilte ihnen voller Bedauern mit, dass ich momentan furchtbar überlastet wäre, dass gleich mehrere dringende Aufgaben auf mich warten würden und ich die Blutprobe daher leider nicht entnehmen könnte. Bei diesen meinen Worten schien es mir fast so, als hätte ich bei einem kurzen Seitenblick ein fröhlich-triumphierendes, wenn nicht sogar ein dankbares Aufblitzen in den Augen meines Lebenskünstlers wahrgenommen, mit dem sich seine Gesichtszüge sichtbar entspannten. Jedenfalls blieb den beiden Polizisten nichts anderes übrig, als darauf achselzuckend mit dem Randalierer in ihrer Mitte und unverrichteter Dinge die Klinik wieder zu verlassen. Und ich erinnerte mich an meine dringende Aufgabe und kehrte zufrieden zu meiner Tasse Kaffee zurück, die ich nicht kalt werden lassen wollte. Wohlgelaunt dachte ich an ein geläufiges Sprichwort: „Man sieht sich doch immer zweimal im Leben“.
Bevor ich gemäß der Ausbildungsordnung zum Internisten die Klinik wechseln musste, begegneten wir uns noch ein letztes Mal, und diesmal nicht in einem kalten Winter, sondern im Hochsommer. Es gab in unserem Stadtteil eine kleine Fußgängerzone mit einigen Geschäften wie Bäckereien, Weinhandel, Blumenladen, Discounter und anderen mehr. An dem schönen Sommertag war die Fußgängerzone gut besucht, einige Passanten saßen unter den großen, rot-weiß gemusterten Sonnenschirmen vor den Bäckereien und nahmen einen kleinen Imbiss oder eine Tasse Kaffee zu sich. An meinem freien Nachmittag schlenderte ich gemächlich an den Geschäften entlang, um einige Besorgungen zu machen.
Schon von Weitem sah ich ihn an einer Straßenecke auf einem niedrigen Höckerchen sitzen, seine Füße hatte er auf einen kleinen Schemel gestützt, seine Hemdsärmel waren in der warmen Nachmittagssonne hochgekrempelt. Auf seinen angezogenen Knien ruhte ein großer Zeichenblock, auf dem er eine vor ihm stehende Frau offenbar mit Bleistift und Kennermiene porträtierte. Sein Blick richtete sich immer wieder auf ihr Gesicht und den Zeichenblock, einige Striche skizzierte er sogar, ohne die Augen von ihrem Gesicht abzuwenden. Mehrere Passanten standen um ihn herum und bewunderten sein Werk. Ich musste zweimal hinschauen, denn ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, unser letztes Zusammentreffen lag schon viele Monate zurück: Von seinem Rauschebart hatte er sich getrennt, seine Haare waren mehr als ordentlich frisiert, er war für seine Verhältnisse relativ ordentlich gekleidet, und seine mir nur allzu gut bekannte Alkoholfahne fehlte ebenfalls. Als ich langsam zu der Gruppe der Schaulustigen trat, blickte er nur kurz zu mir auf. In seinem Blick lag Erkennen, er verzog jedoch keine Miene, offenbar war ihm unser Wiedersehen an diesem Ort und in dieser Situation nicht angenehm. Ich blickte ihm von hinten über die Schulter auf seine Zeichnung und konnte es kaum glauben: Mit scharfer Beobachtungsgabe und erheblichem künstlerischem Talent hatte er die Gesichtszüge dieser Passantin mit wenigen Bleistiftstrichen und einigen Schraffierungen so gekonnt zu Papier gebracht, als würde sie nicht vor uns stehen, sondern aus dem Zeichenblock herauswachsen. Besser hätte man dieses Porträt nicht gestalten können. Die Art und Weise, wie er die Zeichnung angefertigt hatte, sagte sehr viel über ihn aus.
Ich hatte schon immer geahnt, dass in diesem rätselhaften Menschen viel mehr steckte, als nur ein hoffnungsloser Alkoholiker. Seine Augen, sein Blick und seine Gestik bei unserer ersten Begegnung, damals kurz vor Weihnachten, hatten es mir verraten. Als die Passantin ihr Porträt zufrieden zusammenrollte, unter den Arm klemmte und ihren Weg fortsetzte, fragte ich ihn, wie viel er denn für seine Kunstwerke nehmen würde: „Och, was die Leute so geben, Herr Doktor, meistens zehn Mark.“ „Und dann?“ Er sagte nichts, blickte mich nur an und wies mit einer Kopfdrehung und einer kurzen Anhebung des Kinns in die Richtung des nahegelegenen Kiosks, der dort am Marktplatz stand. Dort gab es neben Zeitungen und Tabakwaren sicherlich auch Schnaps, und er würde das Entgelt für sein Kunstwerk gewiss nicht in eine Zeitung investieren. Er war ehrlich, ich hatte seine Geste wohl verstanden.
Ich hatte mir über die Jahre, die ich ihn kannte, nie eingebildet, ihn von seiner Alkoholabhängigkeit befreien zu können. Dazu wäre sicherlich eine sechsmonatige Entziehungskur erforderlich gewesen, mit allerdings nur fraglichem Erfolg. Stattdessen habe ich ihn aber ein wenig bedauert, weil er mit seinem Humor, seiner Schlitzohrigkeit und seinem zweifelsohne vorhandenen künstlerischen Talent sehr viel mehr aus seinem Leben hätte machen können.
Dennoch hatte ich nie den Eindruck gehabt, dass er mit seinem Lebensstil unglücklich war, vielleicht aber doch mit einer einzigen Ausnahme: einer frostigen, bitterkalten Winternacht ohne ein wärmendes Dach über dem Kopf.
7 Das Schulzeugnis
Die Arbeit der letzten Tage war anstrengend genug, und die Innere Abteilung war mit Patienten nahezu voll belegt. Mein letzter Nachtdienst lag noch nicht lange zurück, und nun trat ich bereits den nächsten Nachtdienst an. Warum mussten eigentlich die meisten ernsten Notfälle nachts in die Klinik kommen und warum auch noch ausgerechnet in meinen Diensten? Ich haderte mit meinem Schicksal und ertappte mich bei finsteren Verschwörungstheorien, so als hätten es alle erdenklichen lebensbedrohlichen Notfälle nur auf meine Dienste abgesehen. Dies war natürlich nicht der Fall, denn schließlich waren auch meine Arztkollegen in ihren Diensten gut beschäftigt, aber so war an diesem Abend eben die Stimmungslage.
Ich erhielt einen Anruf von unserem Pförtner, der mir mitteilte, dass sich der Notarzt „mit einer Tablettenvergiftung“ angekündigt hatte. Nun war es seinerzeit nicht so, dass der Notarzt jeden Patiententransport in die Klinik telefonisch ankündigte. Dies geschah in der Regel nur bei besonders dringenden Notfällen. Daher begab ich mich sofort in die große Halle neben der Notfallambulanz, in die der Notarztwagen einfahren würde, und wartete dort zusammen mit den Ambulanzschwestern.
Die Bezeichnung „Tablettenvergiftung“ konnte nun allerhand bedeuten. Abhängig von dem eingenommenen Medikament und der Dosierung konnte es sich um eine relativ harmlose oder aber auch um eine lebensgefährliche Vergiftung handeln. Über die Gründe der Vergiftung, die von einer versehentlichen Überdosierung über einen dummen Streich bis zu einem ernst gemeinten Selbstmordversuch reichten, fehlten uns ebenfalls jegliche Informationen. In dieser Ungewissheit warteten wir also auf den Notarztwagen.
Читать дальше