Es wurde wirklich ein schwieriges Unterfangen. Da die Herzfrequenz sehr niedrig blieb, versuchte ich mit einem Medikament gegenzusteuern, das in stündlichen Abständen injiziert werden musste. Bei meinen häufigen Kontrollgängen in das Zimmer der beiden Schülerinnen bemerkte ich im weiteren Verlauf eine zunehmende Anzahl von Extraschlägen aus der linken Herzkammer, die vermutlich ebenfalls auf die Tablettenvergiftung zurückzuführen waren. Würden solche Extraschläge in schnellerer Folge oder in ganzen Salven auftreten, so würden sie in einem Kammerflimmern enden. Bei Kammerflimmern mit seinen rasend schnellen, wirkungslosen Zuckungen verliert der Herzmuskel seine Pumpfunktion und fördert kein Blut mehr, und der Patient verliert das Bewußtsein. Dies hätte zu einer sofortigen Elektroschocktherapie mit dem Defibrillator geführt, der in ihrem Zimmer bereitstand. Die Behandlung mit Elektroschocks bei den beiden jungen Schülerinnen galt es auf jeden Fall zu vermeiden, denn ob diese allerletzte Maßnahme erfolgreich enden würde, stand auch noch in den Sternen. Auch gegen diese Extraschläge begann ich also eine medikamentöse Therapie, worauf sich die Anzahl der Extraschläge langsam verringerte.
Im Laufe der nächsten Tage stellte sich bei beiden Schülerinnen eine langsame Stabilisierung der Herztätigkeit ein. Mit jedem neuen Tag konnten wir auch einen weiteren Anstieg der Herzfrequenz beobachten, und die Rhythmusstörungen in Form der Extraschläge waren damit ebenfalls rückläufig. Die Auswirkungen der Tablettenvergiftung ließen endlich nach, es hatte auch lange genug gedauert. Bald konnten wir dann die Überwachung an den Herzmonitoren beenden. In täglichen EKG-Kontrollen normalisierte sich die Kurve der einzelnen Herzschläge wieder. Und je mehr sich die beiden Schülerinnen übrigens von der Tablettenvergiftung erholten, desto leiser wurden auch die kritischen Stimmen einiger Kollegen wegen der nicht erfolgten Schrittmacher-Therapie, bis sie schließlich ganz verstummten.
Natürlich haben wir die beiden Schülerinnen abschließend einer Psychiaterin vorgestellt, die keinerlei Selbstmordgefährdung feststellen konnte. Von einer suizidalen Absicht war ich von Anbeginn auch nicht ausgegangen, wir wollten uns lediglich absichern. Die Einnahme von Großmutters Herztabletten war nur ein sehr unüberlegter, ausgesprochen dummer Streich zweier junger unreifer Mädchen. Vielleicht hatte die Sitzenbleiberin ihre schlechten schulischen Leistungen bis zur Zeugnisausgabe vor ihren Eltern verheimlichen können und Angst gehabt, das Zeugnis den Eltern vorzulegen. Oder sie hatte die Tabletten aus Angst vor einer strengen Bestrafung aus dem Badezimmer der Großmutter genommen.
An die Eltern der beiden Schülerinnen kann ich mich in keiner Weise entsinnen. Ganz sicher waren sie aber in jener Nacht, als ich um das Leben der beiden Schülerinnen kämpfte, nicht anwesend, ebenso wenig wie andere Angehörige. Selbst an den folgenden Tagen der Behandlung ist mir eine Begegnung mit Angehörigen nicht erinnerlich. Vielleicht kam der Besuch erst außerhalb meiner Dienstzeiten, oder es gab doch auch schwierige familiäre Verhältnisse.
In jener Nacht war ich ausschließlich auf die notwendigen therapeutischen Maßnahmen konzentriert, heute aber frage ich mich, wie ich mich wohl gefühlt hätte, wenn die Behandlung kein gutes Ende gefunden hätte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Schülerinnen ausreichend verständlich machen konnte, wie sehr sie ihr junges Leben durch die Tabletteneinnahme aufs Spiel gesetzt hatten. Ich kann nur hoffen, dass die insgesamt zweiwöchige Klinikbehandlung ein einschneidendes Erlebnis für sie war, das sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen haben. Ich habe es auch nicht vergessen.
Ob sie wohl heute noch beste Freundinnen sind?
8 Ungeklärte Fieberschübe
Nun war ich bereits einige Jahre an diesem Krankenhaus tätig. Ich hatte viel erlebt, gründliches Arbeiten gelernt, die täglichen Herausforderungen wurden langsam zur Routine. Bisweilen konnte es dennoch geschehen, dass man bei einer vermeintlichen Routinearbeit auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt wurde.
Meine neue Patientin war erst wenige Tage zuvor aus dem Krankenhaus eines Nachbarortes entlassen worden, wo sie zehn Tage lang wegen einer Lungenentzündung behandelt worden war. Kaum zu Hause angekommen, hatte sie nach wenigen Tagen erneut Fieber entwickelt. Der Hausarzt hatte sie darauf in unsere Klinik eingewiesen. Auf das vorherige Krankenhaus war sie aus verständlichen Gründen nicht so gut zu sprechen.
Sie sollte eine sehr geduldige Patientin werden. Sie war vielleicht 55 Jahre alt, groß gewachsen, von schlanker Statur, und dichte, pechschwarze, relativ kurz geschnittene Haare umrahmten ihr blasses Gesicht. Sie war eine höfliche Person, bescheiden, auffallend still, sehr ernst, das Lachen war ihr offenbar vergangen. Sie war bisher immer gesund gewesen, die Mandeln waren vor langer Zeit operiert worden, in relativ jungen Jahren hatte sie einen Herzschrittmacher bekommen, darüber hinaus bot ihre Vorgeschichte keine Auffälligkeiten.
Nun hatte sie also wieder hohes Fieber, nur wenig Husten ohne Auswurf, und in der Blutuntersuchung fanden sich hohe Entzündungswerte und eine leichte Blutarmut, die ihre Gesichtsblässe erklärte. Eine solche Blutarmut ist bei chronischen Infekten nicht ungewöhnlich. Die Röntgenaufnahme zeigte eine etwas ungewöhnliche Lungenentzündung mit einer eher keilförmigen Verschattung. Die übrigen Untersuchungen, auch das EKG, waren in Ordnung, ganz überwiegend handelte es sich um Impulse des Herzschrittmachers, dessen Unterstützung sie wohl dringend benötigte. Die wenigen körpereigenen Herzaktionen im EKG zeigten keine Auffälligkeiten.
Da sie bereits in dem auswärtigen Krankenhaus Antibiotika bekommen hatte, entnahm ich zunächst Blutkulturen. Dabei wird eine Blutprobe in ein Blutkulturfläschchen gegeben, das eine Nährlösung enthält, auf der die Bakterien wachsen können, wenn welche vorhanden sind. Die Blutkulturflaschen wurden im Brutschrank warm gehalten und mit dem nächsten Transport in ein Speziallabor gesandt. Sollten Bakterien enthalten sein, so könnte man feststellen, um welche Bakterien es sich handelt, und das wirksame Antibiotikum austesten. Die Blutkulturen waren jedoch negativ, so erfuhren wir einige Tage später. Negativ im medizinischen Sprachgebrauch bedeutet, dass keine Bakterien gefunden worden waren.
Wir waren also gezwungen, ohne einen Erregernachweis eine Antibiotikatherapie zu beginnen. Das Fieber fiel zwar ein wenig, das Röntgenbild mit seiner keilförmigen Verschattung blieb jedoch völlig unverändert. Diese Keilform störte uns ungemein, denn eine Lungenentzündung hätte eine eher wolkige, flächenhafte Verschattung im Röntgenbild hervorgerufen. Wir ließen daher eine spezielle Lungenuntersuchung, ein Szintigramm, anfertigen: Dieses zeigte einen Lungeninfarkt, also das Resultat einer Lungenembolie. Bei der Lungenembolie wird eine Lungenarterie durch ein Blutgerinnsel verschlossen, sodass dieser Bereich der Lunge nicht mehr durchblutet wird und dadurch ein idealer Nährboden für die Ansiedlung von Bakterien entsteht. Allerdings lag eine Beinvenenthrombose als Ausgangspunkt des Blutgerinnsels nicht vor. Wir ergänzten die Therapie durch ein zweites Antibiotikum und begannen eine blutverdünnende Therapie, um die Durchblutung in der verstopften Arterie zu verbessern und um weitere Embolien zu verhindern.
Diese Erweiterung der Therapie zeigte nun endlich Wirkung. Die Patientin entfieberte vollständig, die Röntgenkontrolle war in Ordnung. Die Patientin fühlte sich deutlich besser, und das Lächeln in ihren Augen kehrte zurück. Allerdings störte mich, dass die Entzündungswerte im Blut keinerlei Besserungstendenz zeigten.
Der Frieden währte leider nicht sehr lange. Nur eine Woche später kam der Rückschlag: erneuter steiler Fieberanstieg, Schüttelfrost, diesmal Husten mit eitrigem Auswurf. Nun zeigte das Röntgenbild eine typische Lungenentzündung, allerdings in der anderen Lungenseite! Neben der körperlichen Schwäche durch den neuerlichen hochfieberhaften Infekt war die Patientin niedergeschlagen, ihre aufkeimende Hoffnung auf eine dauerhafte Genesung war verflogen, sie war enttäuscht, fast deprimiert. Sie wurde von Tag zu Tag stiller und besorgter, sie hatte berechtigte Angst um ihren Gesundheitszustand.
Читать дальше