Nach wenigen Minuten hörten wir in der Ferne schon das Martinshorn, das langsam näher kam und immer lauter wurde. Die Krankenwagenfahrer ließen das Martinshorn bis unmittelbar vor dem Krankenhaus eingeschaltet, obwohl auf der Zufahrtsstraße zu dieser Nachtstunde so gut wie kein Verkehr herrschte. Auch dieser Umstand deutete eher auf einen sehr dringenden Notfall hin. Kurz darauf fuhr der Notarztwagen schon in die Halle hinein. Als die Rettungssanitäter aus dem Wagen sprangen und die Wagentüren öffneten, sah ich zwei 14-jährige Mädchen mit sehr blasser Hautfarbe und somit in schlechtem Zustand. Ich reagierte mehr als erstaunt, denn auf gleich zwei Patientinnen war ich nicht vorbereitet worden. Entweder der Notarzt oder der Pförtner hatte bei seinem Anruf die zweite Patientin unterschlagen. Dem Notarzt war es bei beiden nicht gelungen, eine Infusionskanüle in die Vene zu legen. Den Grund hierfür sah ich gleich: Obwohl beide Mädchen gertenschlank waren und die Venen daher eigentlich gut sichtbar sein mussten, war dies eben nicht der Fall, denn sie waren kaum mit Blut gefüllt. Bei beiden Patientinnen war der Puls am Handgelenk nur sehr flach tastbar, und dazu vollkommen unregelmäßig und viel zu langsam. Auch die Blutdruckwerte waren erheblich erniedrigt. Das schaffte ich unmöglich alleine, denn ich konnte unmöglich beide gleichzeitig versorgen. Ich bat den diensthabenden Anästhesisten (Narkosearzt) um Unterstützung.
Laut dem Bericht des Notarztes hatte die erste junge Patientin die Versetzung zum Ende des Schuljahres nicht geschafft, sie war also sitzen geblieben. Die zweite Patientin hatte zwar die Versetzung geschafft, war aber als beste Freundin der Handlungsweise der Sitzenbleiberin gefolgt. Letztere hatte bei ihrer Großmutter auf der Ablage des Badezimmerspiegels über dem Waschbecken ein fast volles Röhrchen mit Herztabletten gefunden. Den Inhalt hätten sie sich geteilt und vor mehreren Stunden mit einem Schluck Bier eingenommen. Sie waren aber keinesfalls alkoholisiert, denn ich konnte keine Alkoholfahne riechen. Das leere Tablettenröhrchen hatte der Notarzt mitgebracht.
Damals wurde dieses Medikament, in der Regel eine Tablette täglich, zur Stärkung des Herzmuskels bei Patienten mit einer Herzmuskelschwäche verordnet. In massiver Überdosierung eingenommen, wie in dem vorliegenden Fall mit mindestens zehn Tabletten bei jeder Patientin, kann es jedoch zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen mit Todesfolge führen. Wenn das Medikament einmal ins Blut gelangt ist, wird es leider nur sehr langsam über zehn Tage abgebaut. Die Tabletteneinnahme lag bereits so viele Stunden zurück, dass die Tabletten bereits aus dem Darm resorbiert worden waren und ihre gefährliche Wirkung am Herz entfaltet hatten, wie am Puls der Mädchen unschwer zu erkennen war. Ein Gegenmittel gab es nicht, was bedeutete, dass mir nur die Behandlung der äußerst ernst zu nehmenden Folgeerscheinungen der Vergiftung blieb. Nun klagten die beiden über Schwindel, Benommenheit und Farbensehen, also die bekannten Nebenwirkungen bei einer Überdosierung. Glücklicherweise gehören hierzu auch Übelkeit und Erbrechen, und sie hatten sich zu Hause bereits mehrfach übergeben, wie sie sagten. Immerhin war es ihnen so schlecht gegangen, dass sie noch soeben den Notarzt rufen konnten.
Die aktuelle Situation war nicht dazu geeignet, um sich tiefgreifende Gedanken über die näheren Umstände der unüberlegten Handlungsweise der beiden Schülerinnen zu machen. Das jugendliche Alter der beiden, die grundlose Mittäterschaft der versetzten Schülerin und der Aufenthaltsort in Großmutters Wohnung sprachen für sich. Durch ihre Dummheit hatten sie mich in ernsthafte Bedrängnis gebracht. Wäre die aktuelle Lage nicht so ernst gewesen, dann hätte ich ihnen gerne eine ausführliche Standpauke gehalten. Was blieb also zu tun?
Ich dachte zunächst an eine Magenspülung, ließ den Gedanken aber wieder rasch fallen, denn der Zeitpunkt der Tabletteneinnahme lag viel zu lange zurück, und außerdem hatten sie erbrochen und damit den Magen entleert. Sie erhielten allerdings in Wasser aufgelöste Kohletabletten mit dem Ziel, die Resorption noch im Darm befindlicher Tablettenreste zu verhindern. Als sie die Gläser mit der pechschwarzen Kohleflüssigkeit sahen, verzogen sie simultan das Gesicht. „Runter damit, sonst werdet ihr sterben!“, sagte ich bewusst streng. Damit wussten sie nun endgültig, worum es ging, es ging um ihr Überleben! Wir befanden uns keineswegs in einer Situation, die langwierige Diskussionen und Erklärungen erlaubte, sondern rasches Handeln erforderte. Meine Worte verfehlten jedenfalls nicht ihre Wirkung, und sterben wollten sie offenbar doch nicht. Und wir hatten reichlich Kohletabletten aufgelöst, die kann man nicht überdosieren. Sie hoben die Gläser, hielten sich demonstrativ mit zwei Fingern die Nase zu, schauten sich gegenseitig an und leerten sie gemeinsam mit widerwilliger Miene bis zum letzten Tropfen.
Auf dem Handrücken, am Unterarm und in der Ellenbeuge meiner Patientin war zunächst keine Vene sichtbar, trotz eingehender Stauung mit dem Stauschlauch am Oberarm. Also musste ich die Venen tasten. Am Unterarm fand ich nach längerer Suche endlich eine Vene an typischer Stelle und führte vorsichtig die Infusionskanüle in die Vene. Die Kanüle lag richtig, denn es kam nach Entfernung der Metallkanüle Blut zurück. Auch meinem Kollegen war die Venenpunktion bei dem anderen Mädchen gelungen, und die ersten Infusionen begannen zu tropfen. Über diese Kanülen konnten wir wichtige Medikamente direkt in die Vene verabreichen. Das EKG zeigte bei beiden Patientinnen den identischen Befund, nämlich den für diese Vergiftung typischen abweichenden Verlauf der EKG-Kurve. Der Herzschlag war viel zu langsam, etwa 35 Schläge pro Minute (normale Herzfrequenz 70 bis 80 Schläge pro Minute!), weil die Überleitung der Herzerregung vom linken Herzvorhof in die linke Herzkammer teilweise blockiert war. Bei der höchstgradigen Blockierung hätten sie sofort einen vorübergehenden Herzschrittmacher benötigt, und dies im zarten Alter von 14 Jahren!
Selbstverständlich dachte ich schon wegen der sehr niedrigen Herzschlagfolge über den Herzschrittmacher nach. Dagegen sprachen aber gleich mehrere Gründe: Ich konnte nicht beide Schrittmacher gleichzeitig legen, auch war keine der jungen Patientinnen im gegenwärtigen Zustand transportfähig in eine andere Klinik, die Anlage eines Schrittmachers ist nicht frei von Komplikationen, und eine Verschlimmerung der aktuellen Situation durfte ich mir keinesfalls erlauben. Natürlich stimmte ich mein Vorgehen in jener Nacht mehrfach telefonisch mit dem Chefarzt, der Rufbereitschaftsdienst hatte, ab, und er gab mir volle Rückendeckung für meine Entscheidung gegen die Herzschrittmacher. Für diese Handlungsweise mussten wir uns später zwar einige kritische Worte von Kollegen anderer Abteilungen anhören, unser Vorgehen habe ich aber nie bereut. Natürlich hatten diese Kollegen im Nachhinein gut reden, denn sie waren in der besagten Nacht schließlich nicht anwesend, und sie hatten auch keine sofortige Entscheidung über die Behandlung der lebensgefährlichen Vergiftungen treffen müssen. Dieser sehr schwierige Fall sollte sich später noch sehr schnell in unserer Klinik herumsprechen und einige hohe Wellen schlagen.
Die beiden Patientinnen wurden auf die Station verlegt und an Monitore angeschlossen, die die Herztätigkeit aufzeichneten. Es wurden Alarmgrenzen eingestellt, sodass die Monitore bei Unter- oder Überschreitung der Alarmgrenzen Alarm gaben, zum Beispiel bei einem weiteren Abfallen der Herzfrequenz. Sicherheitshalber hatte ich den Notfallkoffer, der alle Utensilien für eine Wiederbelebung enthielt, in das Zimmer der beiden jungen Patientinnen bringen lassen. Die Zimmertüre wurde offen gelassen, und die Nachtschwestern hatten genau gegenüber ihr Dienstzimmer und damit von dort aus durch die großen Glasscheiben die beiden Patientinnen im Blick. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht und hielt praktisch neben ihren Betten eine Sitzwache ab, um auf jede neue Rhythmusstörung sofort reagieren zu können. Der Ernst der Lage war mir durchaus bewusst. In dieser Nacht gab es zum Glück keine anderweitigen Notfälle in der Klinik, so dass ich mich ganz auf die beiden Patientinnen konzentrieren konnte.
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