Ich schnappte mir also das Bett mit der Patientin und schob es eilig mit wehendem Arztkittel in Richtung der Station. Genau in diesem Augenblick ertönte der wunderschöne Gesang eines großen Frauenchors, der mit klaren, hellen Stimmen das schöne Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ sang. Es war eine große Gruppe unserer indischen Nonnen, gekleidet in ihre langen schwarzen Gewänder und schwarzen Hauben, die seit vielen Jahren als Krankenschwestern an unserer Klinik ihren Dienst verrichteten. Der Gesang hallte ungemein laut an den kahlen Wänden der langen Stationsflure wider, die hohe Tonlage ließ tatsächlich an den Gesang von Engeln denken. Die Schwestern hatten zuvor alle Türen der Patientenzimmer geöffnet, damit die bettlägrigen Patienten an dem schönen Vortrag teilhaben konnten. Langsam kam der Gesang näher. An der Flurgabelung, unter dem großen Adventskranz mit den dicken roten Kerzen, bog der Nonnenchor schließlich um die Ecke.
Von der anderen Station, also aus der Gegenrichtung der Nonnen, stimmte plötzlich eine raue, leicht grölende Männerstimme, zweifelsohne ein guter Tenor, in den Gesang mit ein. Um die Ecke bog etwas torkelnd der sichtlich genesene Stadtstreicher, fröhlich über dem alkoholselig geröteten Kopf langsam im Takt des Liedes eine bereits halb geleerte, große Schnapsflasche schwenkend. Er war unverkennbar in seinem Element. Erstaunlicherweise kannte er sogar den Text dieses schönen Weihnachtsliedes. Die Herkunft der Schnapsflasche konnte ich trotz gründlicher Recherche nie aufklären. In unserer Krankenhauskantine gab es ganz sicher keinen Schnaps. Welch eine schöne Bescherung! Na warte, mein Freund, dachte ich relativ humorlos. Ich raste mit meiner Patientin im Bett mitten durch den Nonnenchor hindurch, der dadurch zwar in zwei Gruppen zerteilt wurde, seinen Vortrag aber keineswegs unterbrach, ebenso wenig wie natürlich der Stadtstreicher. Einen Heiligen Abend wie diesen hatte ich noch nie erlebt.
Die Patientin überlebte ihre akute Herzschwäche, und den König der Landstraße konnte ich noch vor Neujahr vollkommen geheilt entlassen. Damit kehrte unter den Schwestern auf meiner Station endlich wieder Ruhe ein, und der Groll der Oberschwester gegen mich verrauchte mit der Zeit.
Der Winter war noch lange nicht vorüber. Anfang Februar war es bitter kalt geworden, und die Stadt war inzwischen von einer dicken, gefrorenen Schneedecke überzogen. Ich hatte einmal wieder Nachtdienst. Immer wenn ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor der Klinik hielt, verhieß das in der Regel nichts Gutes. Eskortiert und gestützt von zwei Wachtmeistern erschien wenige Minuten später eine kümmerliche Gestalt auf dem Stationsflur, eine deftige Alkoholfahne eilte ihr wie immer weit voraus. Es war der mir inzwischen bestens bekannte Stadtstreicher. „Den haben wir hilflos auf einer Parkbank gefunden“, erklärten sie. Dieser Ruheplatz war bei dem Dauerfrost und in alkoholisiertem Zustand gar keine gute Idee von ihm, so dachte ich sofort. Alkohol erweitert die Blutgefäße und führt daher noch schneller zu einer Erfrierung. Ich schaute sie dennoch weiter fragend an. „Wir bringen ihn zum Ausnüchtern!“ – „Ich habe hier aber keine Ausnüchterungszelle“, erwiderte ich auf der Stelle. Sie ließen allerdings nicht locker: „Wir auch nicht, unsere ist schon besetzt.“
„Na schön“, stöhnte ich einwilligend. Ich nahm ihn in Empfang, hakte ihn bei mir unter und begleitete ihn auf die Station. Mit Ausnahme des erhöhten Alkoholspiegels war er diesmal kerngesund, abgesehen von einer nur leichten Unterkühlung. Er war wohl noch rechtzeitig von Passanten gefunden worden. Und er war keineswegs so volltrunken, dass er vollständig desorientiert gewesen wäre. Ich lenkte meine Schritte an der Gangkreuzung auf dem Flur nach rechts in Richtung unseres großen Badezimmers mit der freistehenden Badewanne, die er bereits kennengelernt hatte, er hingegen tendierte deutlich nach links in Richtung des ihm wohlbekannten Viersterne-Rundumversorgungszimmers. Er kannte sich inzwischen bestens aus. Wir drifteten ein wenig auseinander. Ein kurzes, aber hartnäckiges Tauziehen konnte ich zu meinen Gunsten entscheiden. „Nichts da, hier geht’s lang!“, sagte ich sehr bestimmt, worauf er mich sichtlich enttäuscht anblickte. Wir betraten also das gut beheizte Badezimmer. Dort musste ich ihm noch einige Regeln erklären: „Also hören Sie zu. Wir haben hier für solche Fälle ein Feldbett, das werden wir von dem Tragegestell auf den Boden setzen, dann können sie nicht mehr tiefer fallen. Die Schwestern bringen Ihnen warme Decken, und eine Kanne warmer Tee und einige Scheiben Brot werden sich auch noch finden lassen. Niemand darf wissen, dass sie hier übernachten. Ich habe einen sehr strengen Chefarzt, der kommt schon morgens um 7:00 Uhr ins Haus. Wenn der etwas bemerken sollte, bekomme ich großen Ärger!“ Er nickte ganz verständnisvoll, er hatte begriffen: „Is ja juut, Herr Dokter, isch tu allet, watse saajen“, lallte er in einem Gemisch aus rheinischem und berlinerischem Dialekt.
Der Chefarzt betrat natürlich nicht um 7:00 Uhr frühmorgens das Krankenhaus, aber ich nach wenigen Stunden Schlaf in dem Dienstzimmer, das sich in dem Gebäude gegenüber der Klinik befand. Ich lenkte meine Schritte sofort auf die Station und öffnete die Badezimmertüre. Mein nächtlicher Gast war verschwunden und hatte den Raum sogar relativ ordentlich hinterlassen. Die leere Teekanne, ein Becher und ein Teller, den er bis auf den letzten Brotkrümel geleert hatte, standen einsam neben der Liege auf dem Fußboden. „Na also, hat doch prima geklappt“, sagt ich zu mir selbst. Dann öffnete ich weit die beiden großen Flügelfenster, und die Alkoholschwaden in dem Raum entfleuchten in die kalte, klare Winterluft.
Ich konnte nicht behaupten, dass dieser Vagabund die Situation ausnutzte und aus unserem Krankenhaus seinen zweiten Wohnsitz machte. In den folgenden Jahren kam er vielleicht zwei- bis dreimal im Jahr für eine Nacht, vorzugsweise in den kalten Wintermonaten und auffallenderweise immer dann, wenn ich Nachtdienst hatte. Inzwischen verhielt es sich schon so, dass sich die Nachtschwestern und ich uns in einer eisigen Winternacht fragten, wann uns unser Freund wieder besuchen würde, es wäre doch eigentlich genau sein Wetter. Kurze Zeit später suchte er dann tatsächlich eine wärmende Bleibe für eine Nacht. Vielleicht verhielt es sich aber auch so, dass meine Kollegen in ihren Nachtdiensten nicht die Geduld mit ihm aufbrachten und ihn, betrunken wie er war, direkt wieder auf die Straße setzten. Ich hegte auch den Verdacht, dass er diverse andere Möglichkeiten der Unterbringung kannte, zum Beispiel das nicht sehr weit entfernte Obdachlosenasyl. Unser gastliches Krankenhaus schien er immer nur dann aufzusuchen, wenn er sich woanders gerade einmal wieder sämtliche Sympathien verscherzt hatte. Auf seine Weise war er ein kleiner Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft, ohne festen Wohnsitz, der sich aber dennoch nicht aufgegeben hatte.
Zu unserem Krankenhaus führte ein schmaler Zugangsweg durch ein kleines Waldstück mit dicht stehenden hohen Kiefern der angrenzenden Heidelandschaft, die Durchfahrt war jedoch nur für Rettungsfahrzeuge gestattet. Dennoch nutzte ich, wie übrigens viele andere Mitarbeiter auch, diese Zufahrt auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig, bedeutete sie doch eine wesentliche Abkürzung, so dass ich morgens zehn Minuten länger zu Hause schlafen konnte. Eines Morgens erschienen auf dem Zugangsweg hinter einem mächtigen Kiefernstamm in dem Waldstück zunächst die rote Kelle, dann der uniformierte Arm und schließlich der dazugehörige Polizist, nebst einem Kollegen. Ich war in einen gemeinen Hinterhalt geraten und ertappt worden. „Führerschein und Zulassung bitte“, sagten sie streng. Es folgte ein ausführlicher Vortrag über die begangene Verkehrswidrigkeit, die mich trotz intensiver Beteuerungen meiner Unabkömmlichkeit im Krankenhaus zehn Deutsche Mark kostete. Es war auch nur ein schwacher Trost, dass an diesem Morgen noch zahlreiche andere Mitarbeiter der Klinik mein Schicksal teilen mussten. Ärgerlich war nur die Tatsache, dass diese beiden Ordnungshüter in einer Rekordzeit so viele Mitarbeiter zur Kasse gebeten hatten. Während des Mittagessens in der Kantine an diesem Tag gab es nur ein Thema: Wir Ärzte fragten uns natürlich fachübergreifend, wer die gewinnbringende Anregung zu dieser modernen Form einer Wegelagerei gegeben hatte. Chirurgen, Neurologen und Internisten waren sich in ungewohnter Eintracht sehr schnell einig, dass diese Idee nur von „ganz oben“ gekommen sein konnte.
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