Es gibt nun verschiedene Arten von Alkoholikern: solche, die im Rausch bösartig und aggressiv werden, andere, die eher gutmütig sind, und wieder andere, die mit ihrem Leben fast schon abgeschlossen haben und in einem Sumpf aus Gleichgültigkeit feststecken. Er war eindeutig ein Schelm, von der gutmütigen Art. Als ich das fröhliche, vielleicht etwas listige Blinken in seinen Augen sah, wusste ich Bescheid. Ich musste mir eingestehen, dass er mir noch nicht einmal unsympathisch war, so verkommen er auch war. Wie er dermaßen unter die Räder kommen konnte, hat er mir nie verraten.
Jedenfalls hatte sich sein Zustand so weit gebessert, dass ich bei der nächsten Visite ein Vollbad in unserer berühmten großen Badewanne verordnete. Die Stationsschwester notierte meinen Auftrag eifrig in seinem Anordnungsbogen. Bei der Visite am darauffolgenden Tag stank er aber immer noch. Ich schaute die mich bei der Visite begleitende Schwester fragend und vorwurfsvoll an und tippte mit dem Zeigefinger auf den Eintrag im Anordnungsbogen vom Vortag: „Wir hatten leider noch keine Zeit“, flüsterte sie kleinlaut. Es war ganz offensichtlich, dass die eingehende Waschung dieses ungepflegten Menschen nicht gerade zu den bevorzugten Tätigkeiten unserer Schwestern gehörte. Daher sagte ich betont streng: „Bitte heute noch, und zwar sofort nach der Visite!“ Die Begeisterung der Schwester hielt sich dennoch in engen Grenzen, wie ihren Gesichtszügen zu entnehmen war. Aber ich mochte es eben nicht besonders, wenn meine Anordnungen nicht umgesetzt wurden, unabhängig davon, um welche Anordnungen es sich handelte. Ich musste mich auf Mitarbeiter verlassen können, so wie sie sich auf mich verlassen konnten.
Bei der Visite am darauffolgenden Tag saß mein Patient freudestrahlend und kerzengerade in seinem Bett. Er war sogar ordentlich frisiert und rasiert worden und vollkommen umgeben von einer riesigen Duftwolke aus Fichtennadelöl und anderen Essenzen, die sich bis an die Türschwelle seines Zimmers ausgebreitet hatte. Die Schwestern mussten das Badewasser mit mindestens einer ganzen Flasche solcher Zutaten veredelt haben, denn diesmal wollten sie alles richtig machen. Ein neuer Mensch war geboren worden, so schien es, ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er thronte nun beinahe so stolz und glückselig in seinem Bett, dass es den Anschein hatte, als ob seine Hoheit die Untertanen wohlwollend und gnädig zu einer Audienz empfangen wollte. Mit diesem Eindruck sollte ich auch gar nicht so falschliegen.
Nur wenige Tage später, es war inzwischen kurz vor Weihnachten, zogen mich die Schwestern fast flehentlich am Ärmel in ihr Stationszimmer und schlossen hinter mir sofort die Türe. Für ihr Anliegen hatten sie sich sogar des Beistands der Oberschwester versichert, der mein Patient schon immer ein Dorn im Auge gewesen war und die mich seit Tagen mit strafenden Blicken bei unseren Begegnungen auf dem Stationsflur würdigte. Ganz unvorbereitet traf mich aber die jetzige Zusammenkunft nicht, da sich die Schwestern schon mehrfach über meinen Patienten beschwert hatten. „Herr Doktor, wir müssen mit Ihnen reden“, verkündeten sie wichtig. Was dann folgte, war eine nicht enden wollende Litanei von neuen Beschwerden über meinen Patienten: „Der benimmt sich hier wie ein Prinz auf der Erbse, lässt sich von vorne bis hinten bedienen, klingelt pausenlos und wegen jeder Kleinigkeit, so als wäre er hier der einzige Patient, er sei ja so krank, fordert zu den Mahlzeiten immer einen Nachschlag, als wäre dies hier ein Viersternehotel, und … und …“ Ich unterbrach sie vorsichtshalber, denn ihr Vortrag hätte sich sonst sicherlich noch längere Zeit hingezogen. Ich konnte ihnen nicht gänzlich widersprechen, denn einen ähnlichen Verdacht hatte ich auch schon gehegt. Er fühlte sich ausgesprochen wohl auf unserer Station, einmal abgesehen von dem gut fortschreitenden Genesungsprozess. Offensichtlich verfügte er auch über das Talent, gewissermaßen auf Vorrat essen zu können, denn der Winter war ja noch lange nicht vorüber. Wahrscheinlich war es ihm schon seit Jahren nicht mehr so gut gegangen. Ich erklärte ihnen aber auch, dass seine Lungenentzündung noch nicht vollständig auskuriert sei und er sicher über Weihnachten im Krankenhaus bleiben müsste. Auf diese meine Botschaft reagierten sie zunächst mit entsetztem Schweigen, gefolgt von einem mehrstimmigen Chor lautstarker, stöhnender Proteste und gekrönt von einem gemeinsamen, ohnmächtigen Augenrollen in Richtung der Zimmerdecke.
Dem Patient erklärte ich allerdings bei der nächsten Gelegenheit, dass seine Rundumversorgung durch die Schwestern ab sofort beendet sei und er tagsüber sein Bett zu verlassen habe. Er zeigte dafür vollstes Verständnis, nickte dazu ganz brav und sagte: „Jawoll, Herr Doktor.“ Wohin ihn meine ärztlich verordnete Selbstständigkeit allerdings führen würde, sollte sich dann sehr bald noch erweisen.
Die Gestaltung des Dienstplans für die Weihnachtstage und den Jahreswechsel gestaltete sich immer etwas schwierig, besonders aber die Besetzung des Nachtdienstes am Heiligen Abend. Es wurde, wenn möglich, Rücksicht genommen auf Kollegen mit Familie oder anderen Verpflichtungen. Wenn niemand bereit war, den Dienst zu übernehmen, wurde eben durch eine Streichholzziehung entschieden: Der Pechvogel, der das Zündhölzchen ohne Schwefelkopf gezogen hatte, hatte den Dienst gewonnen. Da ich noch keine Kinder hatte, meldete ich mich also freiwillig für den Nachtdienst am Heiligen Abend. Irgendwann wäre ich in jedem Fall an der Reihe, wenn nicht in diesem, dann sicherlich im nächsten Jahr.
Es war Heiliger Abend. Den Weihnachtsbaum hatte ich einen Tag zuvor gekauft und bereits geschmückt, die Bescherung würde am ersten Weihnachtsfeiertag stattfinden. Also trat ich meinen Dienst an diesem 24. Dezember an, ein normaler Arbeitstag im Krankenhaus wie jeder andere auch. Zu Weihnachten waren die Stationen immer relativ leer, viele Patienten wünschten die Entlassung, um im Kreis ihrer Familien feiern zu können. Andererseits benötigten wir auch freie Betten, da die Arztpraxen über die Feiertage geschlossen waren und die Patienten ohne Einweisung direkt das Krankenhaus aufsuchten. So war es zu Beginn dieses Dienstes zunächst ziemlich ruhig auf den Stationen. In der Adventszeit waren die Stationen von den Schwestern liebevoll mit Gestecken aus frischen Tannenzweigen und Adventskränzen geschmückt worden, um den Patienten eine Freude zu bereiten. An der Wegkreuzung, dort, wo der Gang aus der Röntgenabteilung auf den sehr langen Quergang zu den beiden großen internistischen Stationen links und rechts mündete, hing ein riesiger Adventskranz mit dicken roten Wachskerzen von der Flurdecke. Hier und da hatte der Duft von Weihnachtsgebäck und frisch geschnittenem Tannengrün die üblichen Krankenhausgerüche verdrängt.
Am Abend wurde ich in die Ambulanz gerufen. Dort erwartete mich eine betagte Patientin mit schwerer Atemnot. Meine Untersuchung mit dem Stethoskop ergab eine akute Herzschwäche mit Wasseransammlung in der Lunge, einem Lungenödem. Sie war von den Ambulanzschwestern bereits mit einer Sauerstoffsonde in der Nase versorgt worden und glücklicherweise noch kreislaufstabil. Ich verabreichte ihr sofort eine Entwässerungsspritze. Die noch bestehende Kreislaufstabilität musste ich ausnutzen, denn würde der Blutdruck infolge der Herzschwäche kritisch absinken, so wären die Nieren nicht mehr ausreichend durchblutet, und das Entwässerungsmittel würde nicht mehr wirken. Dann hätten wir verloren. Dieses Stadium der Herzschwäche war durchaus ein ernster Notfall. Wir fuhren die Patientin rasch in die Röntgenabteilung, das Röntgenbild bestätigte voll und ganz die Diagnose in Form einer „weißen Lunge“ durch die massive Wassereinlagerung. Die Patientin musste sehr schnell auf die Station gebracht und wieder an die Sauerstoffflasche angeschlossen werden, und sie benötigte umgehend die nächste Spritze zur Entwässerung. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, auf welche filmreife Szene ich zusteuern sollte.
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