Was ist überhaupt der Moment? Sicher ist: Der Moment steht im Widerspruch zum linearen Ablauf der Zeit, dem Chronos. Die alten Griechen unterschieden diese zwei Arten der Zeit ganz genau. Wer die Zeit als Chronos nutzen will, braucht eine Stoppuhr. Angefangen bei den Kirchenuhren im Mittelalter. Das Leben wird zur Fabrik. Alles läuft berechenbar, ohne Überraschung ab. Alles möglichst linear. Alles möglichst ohne zeitraubende Zusatzschlaufe. Immer geradeaus wie ein Marathonläufer. Einmal Pizza Margherita – immer Pizza Margherita.
Wer aber den Moment nutzen will, muss vor allem wissen, dass der Moment Wirklichkeiten schafft. Alles, was wir denken, sagen oder tun, ist immer auch an den Moment geknüpft. Der Moment ist wie ein offenes Fenster in einen anderen Raum, in dem wir jetzt – und nur jetzt – etwas tun oder lassen können. Ist dieses Fenster wieder geschlossen, dann ändern sich die Spielregeln. Ohne dass dies den meisten Menschen bewusst ist.
Bei seinen Beobachtungen anderer Menschen wunderte er sich anfangs oft darüber, wie Frauen sich benahmen, wenn ihnen ein Mann zu gefallen schien. Sie schauten immer wieder hin, kicherten, steckten die Köpfe zusammen. Fuhren sich mit der Hand durchs Haar, erröteten. Um im nächsten Augenblick zu behaupten, dass sie überhaupt nicht an einer neuen Bekanntschaft interessiert seien. Dabei hatten Amors Pfeile sie gerade eben getroffen.
Und überhaupt: Verliebt zu sein war ein unbeschreibliches Gefühl – noch besser als über die Landstraße zu fliegen. Wenn dann – wider Erwarten – die Verliebtheit sich verflüchtigte und sogar die ganze Beziehung aus und vorbei war, dann schwur man sich gegenseitig, dass man auch in Zukunft der wichtigste Mensch im Leben des anderen bleiben werde. Und glaubte es sogar selber; genau in diesem Moment!
Ungefähr so, wie seine Mutter, die ein Vierteljahrhundert zuvor gleich im »nächsten Frühling« ihren kleinen Sohn zu sich zurück holten wollte. In diesem Moment hatte sie dies wohl auch selbst geglaubt. Doch dieser Moment kam nie wieder. Und trotzdem wurde es Frühling. 25 Jahre später.
Das Thema »Autismus« hat in den letzten Jahren sowohl unter Fachleuten wie auch in der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit ganz enorm an Bedeutung zugenommen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in den letzten 3 Jahrzehnten in diesem Fachgebiet viele neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Man kann von einer eigentlichen wissenschaftlichen Revolution reden.
Der Begriff »Autismus« geht zurück auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, der im Jahre 1911 damit eines der Symptome der Schizophrenie (starke Zurückgezogenheit und Selbstbezogenheit) bezeichnete. Erst viele Jahre später (1938) wurde der Begriff erstmals in Zusammenhang mit psychisch auffälligen Kindern gebraucht, und zwar vom Wiener Kinderarzt Hans Asperger in seiner Publikation »Das psychisch abnorme Kind«. Weitere 5 Jahre später veröffentlichten praktisch zeitgleich Leo Kanner in den USA und Hans Asperger in Wien ihre wissenschaftlichen Arbeiten, die Kinder mit autistischer Symptomatik zum Thema hatten. Leo Kanner diagnostizierte bei den von ihm beschriebenen Kindern eine »Autistische Störung des affektiven Kontakts«. Seine Arbeit wurde zur Grundlage des Begriffs »Frühkindlicher Autismus«, und dieser war viele Jahrzehnte lang auch unter dem Namen »Kanner-Syndrom« identisch mit Autismus schlechthin.
Hans Asperger nannte in seiner Arbeit, die 1944 in Wien veröffentlicht wurde, die von ihm beschriebenen Kinder »Autistische Psychopathen« (
Anhang
). Beim Studium jener Arbeit wird klar, dass Aspergers Konzept von Autismus breiter angelegt war als jenes von Kanner, welcher ausschließlich schwer beeinträchtigte Kinder beschrieb. Asperger hingegen nahm eigentlich schon das Konzept des Autismus-Spektrums vorweg: »Nun findet sich der autistische Charakter keineswegs nur bei intellektuell Hochwertigen, sondern auch bei Minderbegabten, ja bei tiefstehend Schwachsinnigen.« (Asperger 1944). Aus diesem Zitat geht auch hervor, dass Asperger in erster Linie normal begabte Kinder beschrieb, welche gemäß seinen eigenen Ausführungen später auch überwiegend eine gute gesellschaftliche und berufliche Integration erreichten. Für diese Gruppe von Kindern wurde später der Begriff »Asperger-Syndrom« geprägt.
Hier muss nun auf eine wichtige historische Tatsache hingewiesen werden: Leo Kanner veröffentlichte seine Arbeit 1943 in den USA. Sie wurde in der wissenschaftlichen Welt, welche nach dem 2. Weltkrieg und bis in die heutige Zeit sowieso stark von den USA dominiert und geprägt wurde, stark beachtet und für Jahrzehnte zum Maß aller Dinge genommen. Hans Asperger hingegen ereilte mehr oder weniger das Schicksal des Vergessens. Er hatte das Pech, in einer äußerst ungünstigen Situation seine Arbeit zu schreiben. Wien war 1944 Teil des Großdeutschen Reiches, seine auf Deutsch publizierte Arbeit wurde schlicht von niemandem gelesen, schon gar nicht in der internationalen Fachwelt.
Leider dauerte es fast 40 Jahre, bis die bahnbrechende Arbeit von Hans Asperger wiederentdeckt wurde, ironischerweise zunächst nur im englischsprachigen Raum. Es war die englische Psychiaterin Lorna Wing, welche 1981 ihre Arbeit veröffentlichte, in welcher sie sich explizit auf Hans Asperger bezog und erstmals für autistische Kinder mit guten verbalen und intellektuellen Fähigkeiten den Begriff »Asperger-Syndrom« vorschlug. Damit wurde eine ganz bemerkenswerte Entwicklung in Gang gesetzt.
Die Tatsache, dass Leo Kanner über lange Zeit das Verständnis von Autismus geprägt hatte, hat sich rückblickend auf den wissenschaftlichen Fortschritt und auf die Versorgung der von Autismus Betroffenen als sehr schädlich erwiesen. Autismus wurde lange Zeit mit einer Krankheit mit schwerer Beeinträchtigung und generell schlechter Prognose gleichgesetzt. Entsprechend wurde diese Diagnose mit großer Zurückhaltung gestellt und auch dies erst in einer Phase der Kindheit, wo die Behinderung ganz offensichtlich wurde. Ich habe dies als Assistenzarzt Mitte der 1980er Jahre persönlich miterlebt. Bei einem Elterngespräch, wo die Eltern eines offensichtlich autistischen Kindes von meinem Oberarzt und mir über die Abklärungsergebnisse orientiert werden sollten, wurde um den »heißen Brei« herumgeredet und das Wort »Autismus« nicht ein einziges Mal erwähnt.
Dementsprechend ist es natürlich auch nicht verwunderlich, dass Autismus ursprünglich als eine sehr seltene Störung betrachtet wurde. Die neuen Erkenntnisse, die in den letzten 30 Jahren gewonnen wurden und die mit der erstmaligen Prägung des Begriffs »Asperger-Syndrom« ihren Anfang nahmen, haben auch zu einer völlig neuen Bewertung der Häufigkeit (Prävalenz) von Autismus geführt.
Noch Anfang der 1980er Jahre galt Autismus als eine sehr seltene Störung mit einem Vorkommen von 1:2.500. 26 Jahre später machte eine englische Kinderärztin eine breit angelegte Prävalenz-Studie an über 50.000 Kindern und kam auf eine Häufigkeit von 1:100 (Baird et al. 2006).
Innerhalb von knapp 30 Jahren hat sich also der Begriff »Autismus« grundlegend gewandelt, von einer seltenen, klar abgrenzbaren »Krankheit« zu einem breiten Spektrum verschiedener Störungen, die insgesamt 25 Mal häufiger sind als die mit dem ursprünglichen Begriff bezeichnete Diagnose!
Es muss hier angefügt werden, dass diese Entwicklung insbesondere im deutschsprachigen Raum nicht unumstritten ist. Es gibt hier Widerstand, die neuen Erkenntnisse, die fast ausschließlich auf die äußerst vielfältige und lebendige Forschung im englischsprachigen Raum zurückzuführen sind, zu akzeptieren. Es gibt die Traditionalisten, man könnte sie auch »Kannerianer« nennen, die Autismus möglichst eng fassen wollen.
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