Allerdings ist es sehr wichtig zu betonen, dass die beschriebenen Probleme im Bereich des autistischen Wahrnehmens, Denkens und auch des Fühlens nicht in Stein gemeißelt sind. Betroffene können in allen diesen Gebieten lernen. Sie können lernen, nicht zu sehr Details verhaftet zu bleiben, auch die Sichtweisen anderer zu berücksichtigen oder ihre Gefühle differenzierter wahrzunehmen und auszudrücken, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Aber dieses Lernen geschieht nicht, wie bei den meisten Menschen, automatisch. Autistische Menschen brauchen für dieses Lernen Unterstützung und Anleitung, so wie andere dies für das Lesen- und Rechnenlernen benötigen. In der Zwischenzeit sind dazu auch schon viele entsprechende Therapie-Konzepte entwickelt worden, auf welche im Kapitel 5 näher eingegangen wird.
Die Arbeit an den emotionalen Kompetenzen autistischer Menschen ist allerdings nicht nur für den Umgang mit Emotionen wie Trauer und Wut von großer Bedeutung. In neuerer Zeit wird von Seiten der Hirnforschung immer mehr darauf hingewiesen, dass für ein sinnvolles Denken und Handeln Emotionen sehr wichtig sind. Das betrifft z. B. insbesondere solche Bereiche wie »Entscheidungen treffen« oder »Ziele setzen und verfolgen«. Für diese kognitiven Leistungen ist das Mitwirken emotionaler Prozesse von großer Bedeutung. Kurz gesagt: Das Treffen von Entscheidungen ist meist das Resultat eines emotional-intuitiven Prozesses und nicht ein rational-bewusster Vorgang! Insofern erstaunt es natürlich nicht, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum sich mit dem Treffen von Entscheidungen oft sehr schwer tun.
Die Bedeutung des Stress-Niveaus
Wenn Menschen aus dem Autismus-Spektrum mit Aussagen charakterisiert werden wie: »Sie können sich nicht in andere Menschen einfühlen«, »ihr Denken ist sehr detailorientiert und unflexibel« usw., so muss immer wieder auf drei Dinge hingewiesen werden:
Erstens: Es ist nicht so, dass diese Menschen all diese Dinge schlichtweg überhaupt nicht können, sondern diese sozialen und kommunikativen Fähigkeiten sind in Bezug auf ihr sonstiges intellektuelles Niveau reduziert, d. h. sie können gewisse Dinge einfach schlechter, als es ihr sonstiges geistiges Niveau erwarten lassen würde.
Zweitens: Viele Fähigkeiten, die in den Bereich der Kommunikation und des Sozialverhaltens fallen, die also eine gute Zentrale Kohärenz erfordern, sind bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum zwar vorhanden, aber sie brauchen zur Durchführung dazu mehr Zeit. Ein Beispiel dazu ist das Erkennen von Emotionen: In einem psychologischen Test, der in Ruhe in einem Untersuchungszimmer durchgeführt wird und wo man für die Bewertung von Emotionen genügend Zeit hat (und seien es auch nur ein paar Sekunden!), können diesbezügliche Aufgaben von Betroffenen gut gelöst werden. Etwas ganz anderes ist dann aber der Alltag, wo solche »Aufgaben« intuitiv, also innert Sekundenbruchteilen gelöst werden müssen – wo man also fähig sein muss, spontan und rasch auf sein Gegenüber zu reagieren.
Und drittens: Das Funktionsniveau eines Menschen mit Autismus ist, in jeder Hinsicht, sehr stressabhängig, und zwar in einem viel ausgeprägteren Maße als bei neurotypischen (
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) Menschen. Unter starkem Stress funktioniert sprichwörtlich gar nichts mehr und das Resultat ist Ausrasten, Ausflippen, Erstarren, Davonlaufen usw. Und schon unter mildem Stress können anspruchsvolle Aufgaben nicht mehr oder nur unter großer Anstrengung erfüllt werden.
Daraus folgt, dass der Umgang mit Stress, das Bewältigen von Stress, in der Therapie und Beratung von Betroffenen einen großen Stellenwert einnehmen sollte. Es gibt dazu verschiedene Techniken und Möglichkeiten, die im
Kap. 5
genauer beschrieben werden.
Die erbliche Veranlagung sowie die beeinträchtigte Funktionsfähigkeit des Gehirns sind für die Entstehung autistischer Störungen zweifellos die wichtigsten Grundlagen. Aber dies bedeutet natürlich keineswegs, dass nicht auch andere Faktoren von Bedeutung sind, die die Umgebung des heranwachsenden Kindes betreffen.
Die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Kind und seinen wichtigsten Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Großeltern usw.) ist in jedem Fall, ob es sich nun um ein neurotypisches Kind oder ein Kind aus dem Autismus-Spektrum handelt, von großer Tragweite. Eltern, die zu ihrem Kind eine liebevolle Beziehung entwickeln können – gerade auch dann, wenn das Kind von der normalen Entwicklung und dem normalen Verhalten abweicht –, haben einen günstigen Einfluss. Eltern, denen das nicht oder nur teilweise gelingt, haben einen entsprechend weniger günstigen Einfluss. Man kann sich ja gut vorstellen, dass sich ein oder beide Elternteile von einem »schwierigen« Kind enttäuscht abwenden, von einem Kind, das ihre Bemühungen um Kontakt und Zuwendung mehr oder weniger ignoriert oder gar ablehnt. In letzterem Fall wird ein Kind mit Frühkindlichem Autismus eine wesentlich »autistischere« Entwicklung machen, als im Falle von sehr geduldigen und weiterhin positiv bemühten Eltern.
Gerade weil die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung von so großer Bedeutung ist, wurden eine ganze Reihe von Therapien und Förderkonzepten entwickelt, die einerseits zum Ziel haben, das autistische Kind aus seiner Reserve und seinen begrenzten Interessen und Aktivitäten zu »locken«. Diese Konzepte zielen aber anderseits genauso darauf ab, die Beziehungen zwischen Eltern und Kind zu entwickeln und zu verbessern, denn Beziehungen gedeihen ja in erster Linie auf der Basis gemeinsamer spielerischer Aktivitäten und Interaktionen. Als Beispiele für solche Konzepte seien hier erwähnt: ABA, Angewandte Verhaltensanalyse; MIFNE, familienorientierter Ansatz; DIR/Floortime Modell; TEACCH. Diese Aufzählung ist bei Weitem nicht vollständig. Alle diese Methoden haben aber gemeinsam, dass unter starkem Einbezug der Eltern und mit viel zeitlichem Aufwand daran gearbeitet wird, den Austausch und Kontakt des autistischen Kindes mit seiner Umwelt zu fördern. Eltern, deren Kind von Frühkindlichem Autismus betroffen ist, sollten für sich selbst herausfinden, welche der angebotenen Methoden für sie selbst am besten geeignet ist. Was für die eine Familie sehr erfolgreich ist, funktioniert bei einer anderen Familie möglicherweise überhaupt nicht. Mittlerweile gibt es in jedem Land Elternvereine, wo man sich gut über die verschiedenen Angebote informieren kann (
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).
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei Kindern mit Asperger-Syndrom und anderen eher leichteren Formen von Autismus die oben erwähnten zeit- und kostenintensiven Maßnahmen nicht notwendig sind. Für diese Kinder gibt es eine Reihe von anderen Angeboten, welche im
Kap. 5
genauer dargestellt werden.
Gesellschaftliche Veränderungen
In den letzten ca. 30 Jahren, also in jenem Zeitraum, wo sich auch das Autismus-Konzept ganz grundlegend verändert hat, haben in der Gesellschaft eine ganze Reihe von wichtigen Veränderungen stattgefunden. Ich bin nun der festen Überzeugung und möchte in diesem Buch auch ein paar Argumente dafür liefern, dass diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen »nebenbei« auch das Erscheinungsbild des Autismus verändert haben.
Dies zu beachten ist deshalb wichtig, weil auch heute noch viele Fachleute Gefahr laufen, den Begriff Autismus zu eng zu fassen. Dies hat zur Folge, dass viele weniger stark Betroffene nicht oder erst sehr spät erkannt werden. »Weniger stark betroffen« heißt aber keinesfalls, dass diese Menschen nur wenige Probleme im Leben haben!
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