1. Eine lange Backzeit bedingt im Verhältnis eine tiefere Backtemperatur.
2. Eine kurze Backzeit bedingt im Verhältnis eine höhere Backtemperatur.
3. Eine lange Backzeit trocknet ein Gebäck stärker aus als kurze Backzeit.
4. Eine hohe Backtemperatur bildet bei einem Gebäck im Verhältnis schneller eine starke Kruste als eine tiefe Backtemperatur.
5. Fazit: Ein gelungenes Gebäck ist immer der gelungene Kompromiss zwischen Backtemperatur und Backzeit. Soll ein Gebäck innen »feucht« sein und außen trocken/hart (Kruste), so muss die Backzeit kurz und die Backtemperatur hoch sein. Soll das Gebäck durchgehend »trocken« sein, dann ist das Verhältnis der Backtemperatur zur Backzeit umgekehrt.
Neben der Uhrzeit als abstrakter Größe zogen ihn Zahlen magisch an. So auch die Jahreszahl im dunklen Keller der Großmutter. Um dorthin zu gelangen, schlich er regelmäßig über die knarrende Holztreppe ins dunkle Nichts hinunter, wo es erdig roch und immer gleich kühl war. Kühl und feucht. Einmal die einzige Glühbirne angeschaltet, konnte er den mächtigen Holzpfeiler genauer betrachten, der sich seit Hunderten von Jahren gegen den Stubenboden von unten entgegenstemmt. Gegen den Stubenboden, auf dem unzählige Generationen geboren und gestorben waren. Der Junge stellte sich vor, wie der mächtige Holzpfeiler das ganze Holzhaus tragen musste. Seit damals, als der Holzpfeiler die vier Zahlen eingeschnitzt bekam: Seit 1616. Vier Zahlen, aber nur zwei verschiedene Zahlenarten. Wann das 1616 wohl gewesen sein mag, fragte er sich immer wieder. Und gleichzeitig spürte er den Rhythmus, den dieses Zahlenpaar in sich trug. Von der 16 ließ sich ganz einfach die Wurzel berechnen – nämlich 4. Aber auch die Wurzel von 1616 war sehr ähnlich. Nämlich 40,2 grob gesagt. Diese Regelmäßigkeit verblüffte ihn. Gleichzeitig faszinierte ihn die Unregelmäßigkeit, die durch die schier endlose Zahlenreihe nach dem Komma zum Vorschein kam, wenn man die Wurzel aus 1616 exakt berechnete. Gleichzeitig spürte er das optische Gleichgewicht, das von dieser schwungvoll geschnitzten Zahlenkombination ausging.
Und so interessierte er sich plötzlich für alle Jahreszahlen, die er an Hauswänden, Ställen und Brücken entdeckte. All diese Häuser, Ställe und Brücken fing er anschließend an zu kategorisieren. Und schon bald sah er, dass die ältesten Häuser in der Umgebung bunt gemischt waren mit neuen Häusern. Es gab kein eigentliches Muster. Außer, dass das Muster regelmäßig-unregelmäßig war. Das war irgendwie enttäuschend. Denn insgeheim erhoffte sich der Junge, hinter den vielen Jahreszahlen eine geheime Botschaft zu entdecken. Eine Botschaft, die zu entdecken nur er imstande war, denn die anderen schienen sich nicht besonders für solche Zahlen zu interessieren. Sah denn nur er überall Zahlen und Wiederholungen? Suchte nur er nach verborgenen Mustern?
Bevor er selbst Wurzeln berechnen konnte, übte er sich im Kopfrechnen. In der fünften Klasse veranstaltete der Lehrer eigentliche Kopfrechnen-Wettkämpfe. Das war genau nach dem Geschmack des Jungen. Meistens war er der Schnellste der ganzen Klasse. Einmal als sie 12 × 26 im Kopf ausrechnen mussten, verblüffte er den Lehrer. Dieser fragte ihn nämlich, warum er das Resultat so schnell wusste. Die Antwort des Jungen war ungewöhnlich. Zumindest für die anderen Schüler dieser Klasse.
Während die gesamte Klasse nämlich mühsam zuerst 10 × 26 berechneten und dann noch 2 × 26 im Kopf behalten mussten um dieses zweite Resultat (52) mit dem ersten Resultat (260) zu addieren, hatte der Junge ein schnelleres System entdeckt. Ein System sozusagen, dass das Rechnen im eigentlichen Sinn hinfällig machte. Das ging so: 12 × 26 ist das Gleiche wie 6 × 52 und das ist wiederum das Gleiche wie 3 × 104. Aber 3 × 104 ist viel einfacher auszurechnen als 12 × 26. Ja, 3 × 104 ist sozusagen weniger abstrakt wie 12 × 26. Genau gesagt musste der Junge nicht einmal mehr rechnen, um das Resultat von 3 × 104 zu wissen. Er sah das Resultat blitzartig im Kopf – bildlich – vor sich. Nämlich 312. Der Junge rechnete also nicht mehr, sondern er suchte nach Mustern. Nach einfachen mathematischen Mustern, die ihm das Kopfrechnen erleichterten.
Besonders verblüffend fand der Sechstklasslehrer des Jungen von der Schutthalde dessen Kopfrechenkünste bei Prozentrechnungen. Der Lehrer fragte: »Wie viel ist 37,5 % von 25?« Das wagte niemand in der Klasse im Kopf auszurechnen. Papier und Bleistift mussten her. Doch dann fiel schon die Antwort. Unser kleiner Held präsentierte sie freudenstrahlend dem verdutzten Lehrer: 9,375.
Wie war das möglich? Der Junge berechnete das Ergebnis im Kopf mit 4 Rechnungsschritten:
1. Schritt: Bei 37.5 % von 100 wäre das Ergebnis = 37,5
2. Schritt: Bei 37,5 % von 25 ist das Ergebnis = 4 × kleiner als 37,5 (denn 25 ist 4 × kleiner als 100)
3. Schritt: 37,5 : 4 ist = wie 75 : 8 (Gerade Zahlen sind weniger abstrakt)
4. Schritt: 75 : 8 = 9,375
Für den Jungen war klar, dass 75 : 8 = 9 sind (72 : 8 = 9). Ihm war auch klar, dass die restliche Zahl 3 : 8 = 0,375 ist (3 : 8 = 3 / Rest 6 / 6 : 8 = 7 / Rest 4 / 4 : 8 = 5).
Die Klassenkameraden berechneten das Ergebnis mit Papier und Bleistift mit und das mit 5 Rechnungsschritten – also offensichtlich mit einem komplizierteren Lösungsweg, einem komplizierteren System:
1. Schritt: 25 : 100 = 0,25 × 37,5 (Dreisatz)
2. Schritt: 0 × 37,5 = 0
3. Schritt: 0,2 × 37,5 = 7,5
4. Schritt: 0,05 × 37,5 = 1,875
5. Schritt: 7,5 + 1,875 = 9,375
Das eigene Rechnungs-System des Jungen für seine Kopfrechnungen beruhte auf dem Verstehen des »Verhältnis der Zahlen zueinander«.
So vergingen die Jahre in dem alten Bauernhaus: Die Großeltern wurden noch älter, wurden langsam greise und plötzlich krank. Der Junge rechnete und las viel, arbeitete täglich nach der Schule auf der Schutthalde. Ferien kannte er nicht. In den Ferien arbeitete er schon als 13-Jähriger regelmäßig als Handlanger auf Baustellen. Und wenn er einmal weg kam aus seinem Tal, dann Dank der Trainingslager als kleiner Skirennfahrer.
Und trotzdem: Bis er 15 Jahre alt war, hatte er dreimal für kurze Zeit Ferien gemacht, einmal hatte er sogar das Meer gesehen. Seine Tante hatte ihn mit nach Italien genommen. Er stand am Strand und staunte über die unendlich vielen Leute in den Liegestühlen. Leute, die selten lasen, nicht rechneten und schon gar nicht arbeiteten – oder wenigstens trainierten. Ja, das Training war sein Leben neben der Arbeit. Das Training war die luxuriöse, dekadente Form des Arbeitens. Wobei er das Wort »dekadent« damals noch nicht kannte. Dieses Wort fand er viele Jahre später in einem Buch von Thomas Mann. Ein Wort, das für ihn vieles zusammenfasste, worin sich sein Leben vom Leben der anderen unterschied: Er lebte, um zu arbeiten. Die anderen arbeiteten, um zu leben, wie es schien. Und wenn er nicht arbeitete, dann trainierte er. Und so trainierte er Skifahren, Schwimmen, Gitarre spielen, Kuchen backen, Torten garnieren – schrieb als Zuckerbäckerlehrling tausendmal mit flüssiger Schokolade »Zum Geburtstag«, »Frohe Ostern«, »Schöne Weihnachten« – und kannte diese Feste selbst nicht.
Als die Großmutter nach langem Leiden starb, lebte er als 18-Jähriger ganz alleine im alten Bauernhaus. Er in der Küche, sein Großvater in der Stube. Sein Großvater war schwer erkrankt an einem Hirntumor. Sprach laut mit sich selbst, ruderte wie wild mit den Armen, wenn er sich das Gebiss aus dem Mund nehmen wollte, schrubbte mit der Toilettenbürste das Geschirr in der Küche. Niemand kochte. Niemand kam zu Besuch. Jeden Tag Champion-Birchermüsli mit Wasser angerührt. Und die Kleider von der Schutthalde.
Eines Tages saß er am dunklen Küchentisch und schrieb einen Brief ans kantonale Sportamt: Darin kündete er feierlich an, dass er sich entschlossen habe, Langstreckenläufer zu werden. Denn als Skifahrer konnte er nicht mehr an die Weltspitze gelangen, dazu hatte er zu wenig Talent, war er jetzt bereits zu alt. Mit 18 fuhr er zwar schnell, aber nicht schneller als die allerbesten 15-Jährigen. Zeit zum Aufhören also. Und so ging er nie mehr auf den Berg. Fuhr nie mehr die Tiefschneehänge hinunter, musste nie mehr Rennskis wachsen am Samstagabend. Nun wurden die Landstraßen zur Rennpiste. Die Landstraßen, sie zogen ihn magisch an. Die Distanz als Ziel, die Stoppuhr als Tachometer, der Puls als Drehzahlmesser. Für ihn war das Rennen ein Gefühl des Fliegens. Mit 20 Stundenkilometer lautlos über den Teer gleiten, den Wind im Gesicht und den Kopf voller Zahlen. Denn Marathonlaufen war für ihn pure Mathematik:
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