Der Philosoph Platon selbst ist zwar einerseits unsere wichtigste Quelle, was das sokratische Denken anbelangt, andererseits steht er auch stellvertretend dafür, dass einige der hier referierten Autoren durchaus durch eine ganz anders geartete – antisystemische – Brille betrachtet werden können. Platon macht es uns hierbei besonders einfach, denn sein Denken in seinen früheren Schriften (vermutlich noch recht nahe an Sokrates orientiert) unterscheidet sich in doch recht hohem Maße von seinem späteren (im Bemühen um eine Staatsphilosophie).
Platon, der zweifellos berühmteste Schüler von Sokrates, entstammte einer eher wohlhabenden Familie. Er gründete zudem die erste Philosophenschule Griechenlands (oder gar weltweit?), die Akademie, und versuchte, wenn auch erfolglos, den tyrannischen Herrscher von Sizilien, Dionysios, zu einer umfassenden Staatsreform zu bewegen.
Insbesondere in seiner Schrift über den Staat offenbart Platon ein Wahrheitskonstrukt, das den klassischen sokratischen Vorstellungen komplett widerspricht. Suchte Sokrates noch nach dem Guten, Schönen und Wahren , so interessiert sich Platon hier vielmehr primär für den wohlgeordneten Staat . Und für die anderen Aspekte gilt es nun, sich diesem neuen höheren Prinzip unterzuordnen. Eigentlich möchte man meinen: willkommen in der Moderne!
Aus heutiger Perspektive entwickelt Platon jedenfalls Vorstellungen von einem idealen Staat, die für uns eher als von totalitärer Natur erscheinen. So stellt sich Platon zunächst einmal einen Staat vor, der streng hierarchisch zu gliedern sei. Unten stehen die Stände der Erwerbstätigen, darüber die der Wächter und wiederum darüber die der Herrscher. Zur Legitimation dieses Konstrukts bedient sich Platon der Lüge und stilisiert sie zur »edlen Täuschung« 19: Dem Volk sollen irgendwelche Mythen erzählt werden, welche ihren jeweiligen Stand als notwendig etikettieren, damit sie sich in ihr Schicksal fügen. Platon stellt sich dabei beispielsweise vor, dazu müsse die Fortpflanzung reguliert werden, und zwar so, dass
»die besten Männer den besten Frauen möglichst oft beiwohnen müssen, dagegen die schlechtesten Männer den schlechtesten Frauen möglichst selten« 20.
Doch wie soll das gehen? Platon schlägt vor, dass dies durch »geschickte Verlosungen« geschehen solle, d. h., die Herrscher (wer auch sonst!) bestimmen aus eugenischen Gründen, wer mit wem zusammenkommt, und manipulieren die Verlosung.
Damit verbiegt sich ein erstes Mal in der Philosophiegeschichte ein klassisch konstruktivistisches Argument: Aus der Erkenntnis, dass Wahrheit eine bloße Annahme sei (Xenophanes) bzw. relativ zum Beobachter (Protagoras) oder dass sogar eine grundsätzliche Haltung des reflexiven Nichtwissens (Sokrates) einzunehmen wäre, reklamiert Platon hier schlichtweg eine höhere Wahrheit für sich, der sich alle anderen unterzuordnen hätten. Dafür genügt ihm das vage Versprechen eines »idealen« Staats. Ideal für wen? Für die vielen, die als »schlecht« wahrgenommen werden? Es lohnt sich somit durchaus – siehe nochmals Heinz von Foerster –, sich in kritischer Hinsicht zu Wahrheitsanmaßungen zu verhalten.
Schlussendlich: Ist Ihnen schon einmal etwas aufgefallen? Nämlich: Warum wird Wahrheit gemeinhin für den eigenen Standpunkt beansprucht und nicht etwa für den eines anderen? Komisch eigentlich, oder? Ich hätte ja wenig Probleme, andere als stärker, geschickter oder klüger zu bezeichnen. Aber näher an der Wahrheit dran? Manche von uns tun dies, aber nur, weil sie ihr Gewissen und ihr Denken in die Hände eines Führers oder Gurus oder irgendeiner Gottesvorstellung legen wollen.
So verdanken wir Platon zwar, dass wir Sokrates einen prominenten Platz in unserer systemischen Ahnengalerie zusichern konnten – er selbst wird wohl eher draußen bleiben dürfen.
Die Summe der Teile (Aristoteles)
Die antike Philosophengeschichte lässt sich aus unserer heutigen Perspektive auch als eine Abfolge von Lehrer-Schüler-Beziehungen lesen. In Platons Dialogen zählt Sokrates gleich eine ganze Reihe von Lehrerinnen und Lehrern auf, die ihn beeinflusst haben: Mit Aspasia und Diotima befinden sich in der damaligen feudalistischen und eigentlich noch prä-demokratischen Zeit sogar zwei Frauen darunter, der Bezug zu Xenophanes und Protagoras wurde bereits erwähnt. Platon wiederum steht in direkter »Schülerschaft« zu Sokrates, allerdings nicht als Einziger. Bis heute (wenn auch eher als Karikatur) bekannt ist beispielsweise Diogenes von Sinope (»Das ist der mit der Tonne«), Begründer der damals einflussreichen Schule der Kyniker.
Unter Platons Schülern wiederum sticht insbesondere Aristoteles (384–322 v. Chr.) hervor. Ihn als bloßen Platonschüler zu etikettieren würde allerdings deutlich zu kurz greifen, begründete Aristoteles doch mit seiner Unterscheidung theoretischen, praktischen und poetischen Wissens letztendlich das moderne Bild der Wissenschaften. Zudem ist ihm, wenn auch in etwas verklausulierter Form, eine wesentliche Erkenntnis zur Idee des Systems selbst zu verdanken.
Aristoteles erkundete im Zusammenhang mit Fragen der Metaphysik Fragen des Wesens: Was ist das Wesen eines Hauses, was das Wesen eines Menschen? Dieses Wesen wurde von ihm als eine ganz besondere Form der Ursache angesehen, also etwa, was einen Menschen zum Menschen macht. Hierzu aber brauchte es eine ganz andere Art und Weise der Erforschung, denn:
»Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, dass das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente.« 21
Somit, im Kurzen: Das Ganze ist nicht die bloße Summe seiner Teile, sondern etwas anderes. So wie etwa die Silbe »eins« zwar aus vier Buchstaben besteht, aber inhaltlich rein gar nichts mit dieser »Vierheit« zu tun hat. Die von Aristototeles hier vermittelte Erkenntnis ist in der Folge häufig zu einem »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« kondensiert worden. Doch ebendieses »mehr« beinhaltet eine gewisse Unschärfe. Kommt da einfach noch etwas mit dazu? Es wäre sicherlich besser, stattdessen darauf hinzuweisen, dass das Ganze »etwas anderes« ist als die Summe seiner Teile (Metzger 1975, S. 6). 22In dieser Weise entkommt man zudem einem dümmlichen Reduktionismus, der aus dem »mehr« allenfalls wieder seine besondere Elemente zu extrahieren sucht.
Dieses von Aristoteles bereits erkannte Phänomen wird über 2000 Jahre später unter anderem als »Emergenz« bezeichnet – und es wird in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen als eine wesentliche Eigenschaft komplexer Phänomene erkannt werden. Aristoteles selbst ist im Übrigen sogar jenseits der Philosophie zu Bekanntheit gelangt; war er doch Lehrer des größten Erobereres, den die altgriechische Welt hervorgebracht hat: von Alexander dem Großen.
Bei aller Begeisterung für die vielfältigen Anfänge des philosophischen Denkens im antiken Griechenland kann eines nicht verschwiegen werden. Die viel gerühmte attische Demokratie war nämlich von unserem modernen Demokratieverständnis noch ein ganz schönes Stück weit weg. Athen war, ebenso wie die anderen Stadtstaaten der damaligen Zeit, eine Sklavenhaltergesellschaft, und die Anzahl der Sklaven hat die Anzahl der freien Bürger vermutlich deutlich überschritten. Den Frauen ging es damals nicht viel besser – sie standen offenbar lebenslang unter der Vormundschaft ihres Mannes bzw. ihres Vaters oder ihrer Brüder. Die attische »Demokratie« umfasste somit bloß eine Minderheit und ihre Interessen. Aber immerhin: Ein wichtiger Anfang wurde gemacht. 23
Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen gibt es eine Reihe von Philosophinnen, die zumindest dem Namen nach überliefert sind, obzwar kaum etwas von ihrem Denken bekannt ist. Eine dieser Spuren führt direkt wiederum zu Sokrates zurück, denn es war eine Frau – Aspasia von Milet –, die ihn offenbar in Sachen »Rhetorik« unterrichtet hat. Doch offenbar war dies bereits eine Provokation für die damalige Gesellschaft: eine zwar nahezu rechtlose, aber dennoch gebildete Frau. Aspasia habe »nicht gerade ein ehrbares, anständiges Gewerbe« 24betrieben, sondern sie habe ein Bordell geführt, wurde behauptet. Was sie hingegen gedacht oder gar geschrieben hat, das ist nicht überliefert.
Читать дальше