Das »menschliche Maß aller Dinge« beinhaltet bei Protagoras damit eben nicht die Vorstellung eines primär menschfokussierten Weltbildes, sondern betont die Relativität einer Aussage zu ihrem Sprecher. Damit wird dies alles eher zu einem Akt konstruktiver Verzweiflung anstelle dogmatischer Weltsicht: Uns bleibt schlichtweg nichts anderes übrig, als uns zum Maß aller Dinge zu nehmen. Aber damit haben wir am Ende gar nicht so viel gewonnen – außer eben der Erfahrung der Relationalität vom Menschen und seiner Um-Welt.
Bei Protagoras kommen damit jedenfalls – vielleicht zum ersten Mal in der griechisch-alteuropäischen Geistesgeschichte – elaboriertere konstruktivistische und relativistisch-systemische Denkweisen zusammen. Wahrheit ist relativ zum Beobachtenden und in dieser Weise nicht absolut. Das menschliche Maß aller Dinge steht somit für das Eingeständnis dessen, dass wir über die Grenzen unserer Reflexivität und Relativität nur schwer hinauszugelangen vermögen. Ob daraus ebenjene Beliebigkeit folgt, die all die befürchten, die um einen festen Wahrheitsbegriff bemüht sind? Das mag sich zeigen.
Auf der Suche nach der Weisheit (Sokrates und Platon)
Mit Sokrates (469–399 v. Chr.) erreicht die eurozentristische Philosophiegeschichte ihren ersten großen Höhepunkt. Er soll der Erste gewesen sein, der sich selbst als einen »Philosophen« bezeichnet hat. Ein Philosoph ist – aus dem Griechischen übersetzt – ein »Freund der Weisheit«. Mit dieser Selbstbezeichnung hatte sich Sokrates vor allem gegen andere Denker seiner Zeit abgesetzt, die er als bloße »Sophisten« schmähte. Diese nämlich würden Wissen in Anspruch nehmen, das ihnen gar nicht zukommen könne. Gelebt hat Sokrates in Athen, sein ganzes Leben lang.
Sokrates folgt zunächst den wahrheitskritischen Positionen, die vor ihm bereits Xenophanes und Protagoras entwickelt hatten. Er hatte sich offenbar jedoch unter anderem daran gestört, dass sich die »Sophisten« für die Vermittlung ihres Wissens bezahlen ließen. Sokrates’ Philosophie hingegen war gratis. Und seine Idee, dass ein Philosoph ein Freund der Weisheit sei, beinhaltet bereits eine weitere konstruktivistische Wendung, distanziert er sich damit doch von absoluten Wissensansprüchen.
Unser heutiges Wissen über Sokrates verdanken wir vor allem seinem berühmtesten Schüler: Platon (427–347 v. Chr.). Während Sokrates selbst nämlich kein einziges schriftliches Werk hinterlassen hat und sogar die schriftliche Niederlegung seines Denkens Platon verboten haben soll, hat Platon später dennoch damit begonnen, das Denken seines philosophischen Meisters in der Gestalt von Dialogen wiederzugeben. Die antike Philosophie von Sokrates begegnet uns somit vor allem in der Form des Gesprächs.
Dem Vernehmen nach hat Sokrates seinen eigentlichen Beruf – er war vermutlich Bildhauer – reichlich vernachlässigt. Stattdessen trieb er sich lieber auf den öffentlichen Plätzen Athens umher und verwickelte andere ins Gespräch. Dabei konfrontierte er sie insbesondere mit ihrem je eigenen Denken.
Dieses sokratische Gespräch speist sich durch zwei Elemente: zum einen durch die gemeinsame Suche nach Erkenntnis und nach Weisheit, zum anderen durch die Konfrontation seiner Gesprächspartner mit ihren eigenen Aussagen: Sind sie mit ihren eigenen Annahmen überhaupt konsistent, und wie verhalten sie sich zu einem auch von ihnen selbst behaupteten größeren Ganzen?
Sokrates hat diese Weise, wie er im Gespräch nach Erkenntnis sucht, als eine »Hebammenkunst« bezeichnet. In Platons Theaitetos erklärt er, diese seine Hebammenkunst helfe beim Gebären von Seelen . 12Seine Gesprächspartner seien gewissermaßen mit all dem Wissen bereits schwanger, das sie im Gespräch erst offenbarten.
Platon lässt etliche seiner Dialoge in einer »Aporie«, in einer Situation der scheinbaren Ratlosigkeit, enden. Denn schließlich sollten diese Dialoge zur Lehre des philosophischen Denkens dienen und nicht zur bloßen reinen Erbauung. Zum Selberdenken sollten sie anregen. Der Leser ist aufgefordert, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und nicht bloß Wissen nachzubeten. Aufgrund dieser besonderen Weise des Fragens ist Sokrates als der »erste Systemiker des Abendlandes« 13bezeichnet worden.
Dieser stetige Aufruf, nicht nur zu denken, sondern auch zu reflektieren und damit scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen, ist schon in Athen nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Sokrates wurde mit dem Vorwurf vor Gericht gestellt, dass er mit seinen Reden die Jugend verderbe. In seiner Verteidigungsrede vor Gericht rechtfertigt er seine philosophische Haltung des berühmten Wissens über sein Nichtwissen:
»Ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich ebendas, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen vermeine.« 14
Des Weiteren erklärt Sokrates:
»Offenbar finden sich dann eine Menge Leute, die zwar meinen, etwas zu wissen, in Wirklichkeit aber wenig oder nichts wissen.« 15
Dieser Kampf, den Sokrates gegen überbordende Wissensansprüche führte, ist von uns heute vielleicht gar nicht so weit weg. Machtinteressen werden allerorten in Gestalt von »Wahrheits-«Aussagen umkodiert (mit dem unseligen Beispiel des US-Präsidenten Trump). Weiterhin werden fröhlich Wissensansprüche der verschiedensten Art geäußert, und teilweise scheint es sogar, je fantastischer und einfacher sie sind, desto besser. Oder aber – besonders schlau – es wird aus der scheinbaren Relativität von jeglichem Wissen dann zuerst eine scheinbare Beliebigkeit diagnostiziert, und dann werden doch wieder die eigenen, besonders bequemen oder (wahlweise) perfiden Wahrheiten verkündet.
Aber bei aller Relativität und bei allem Wissen übers Nichtwissen: Ich glaube, wir dürfen weiterhin davon ausgehen, dass es ausgesprochen dumme oder auch falsche Aussagen gibt. Und in Vorwegnahme späterer Gedanken: Der Verzicht auf den Begriff der Wahrheit führt nicht notwendig auch zur Aufgabe vom Falschen – es ist alles nur nicht ganz so einfach und so bequem, wie wir es vielleicht gerne hätten.
Rund 2400 Jahre nach Sokrates wird seine Perspektive radikalisiert. Heinz von Foerster erklärt in ebendieser intellektuellen Tradition: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.« 16Warum? Zunächst einmal kurz und knapp: »Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner.« 17Für von Foerster kann die Inanspruchnahme von Wahrheit letztendlich zu katastrophalen Folgen bis hin zu Kriegen führen – so wie in der Menschheitsgeschichte bereits vielfach durchlitten. Aber was bleibt, wenn man auf die Inanspruchnahme von Wahrheit verzichtet? Dann erst zeigt sich die eigentliche, für von Foerster »fundamentale« Relation: Vertrauen 18.
Alles in allem erweist sich die Suche nach Wahrheit, Erkenntnis und verlässlichem Wissen als ausgesprochen schwierig. Der Philosoph Sokrates fordert eine fundamentale Einsicht in das notwendige Nichtwissen, der Kybernetiker von Foerster ächtet den Wahrheitsbegriff an sich. Sokrates scheint letztendlich an das Gute und insbesondere die Frage nach dem Guten geglaubt zu haben, von Foerster stellt ebenfalls die Ethik in den Mittelpunkt seines Denkens. Wird das genügen?
Aber was ist aus Sokrates letztendlich geworden? Die Athener haben ihn schließlich für schuldig erklärt, dass er tatsächlich die Jugend verdorben habe. Vor die Wahl gestellt, im Alter von rund 70 Jahren Athen zu verlassen und ins Exil zu gehen oder einen Schierlingsbecher zu leeren und damit sich selbst zu töten, wählte er das Letztere. Seine Philosophie hat jedoch bis heute überdauert. Mit ihm bleibt die Erkenntnis, dass es durchaus lebensgefährlich werden kann, frei zu denken und zu sprechen. Aufgrund der großen Bedeutung von Sokrates in unserer Geistesgeschichte darf er zudem den ersten Platz in unserer kleinen Ahnengalerie einnehmen – wobei sein großes Standbild umringt gedacht sein darf von den Standbildern von Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie Siddharta Gautama und Laozi.
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