Andererseits – wovon sollte sie müde sein? Ihren letzten Film hatte sie vor einem halben Jahr gedreht. Danach hatte sie ein paar Talkshows und einige Fototermine gemacht, ein bißchen PR eben, sie hatte Filmpremieren besucht, Partys, und sie war hin und wieder ausgegangen, so wie heute abend mit Lee Bannister. Aber wovon, um Himmels willen, sollte sie müde sein?
Von einem bißchen Fitneßtraining, Packungen und Massagen in Roger Kerrs Beautycenter?
Außerdem war sie allein, zum Heulen allein!
Helen war kein Typ für schnellen Sex. Sie hatte ein paar Affären hinter sich, die ernsteste mit Lee J. Bannister, als sie noch eine unbekannte junge Schauspielerin namens Elsie Gray gewesen war, danach drei Ehen, die schiefgegangen waren, und nach ihrer letzten Scheidung vor zwei Jahren hatte sie im Grunde die Nase voll gehabt.
Deshalb hatte sie die meisten Möglichkeiten, die sich ihr boten, vorübergehen lassen. Drei- oder viermal hatte sie mit Stan Russel, dem Regisseur ihres vorletzten Films, geschlafen, später mit einem Newcomer in der Musikszene, der hinreißende Filmmusiken schrieb, Helen aber hauptsächlich dazu benutzte, um an lukrative Aufträge heranzukommen, und zuletzt mit dem steinreichen Hauptaktionär eines Elektronik-Konzerns, der sie unbedingt hatte heiraten wollen.
Aber Helen hatte weder zu einer vierten Ehe Lust verspürt, noch dazu, dem erfolgreichen Manager als Aushängeschild zu dienen, worauf die Sache letztendlich hinausgelaufen wäre.
Und da war nun dieser Junge, der Rocky Marfield hieß ... Das erfuhr Helen eine halbe Stunde später, nachdem er in einem Badezimmer ihres Hauses geduscht und sich und seine Kleidung von Straßenschmutz, Blut und Erbrochenem gesäubert hatte.
Er war fünfundzwanzig, also genau zwanzig Jahre jünger als sie. Er trug teure Designer Jeans und ein Jackett von Armani, allerdings nicht von neuestem Schnitt und schon ziemlich abgewetzt, und er hatte die blauesten Augen, die Helen jemals gesehen hatte. Sie hatten wirklich die Farbe von Veilchen, mit einem dunkleren Kranz um die Iris.
Seine Hände waren kräftig, aber gut geformt. Irgendwie vertrauenerweckende Hände, fand Helen, obwohl die Verhältnisse, in denen dieser Rocky Marfield lebte und über die er erstaunlich offen sprach, nicht dazu angetan waren, ihn für einen harmlosen Zeitgenossen zu halten.
»Haben Sie Hunger?« fragte Helen. »Ich kenne mich zwar in der Küche nicht besonders aus, aber irgend etwas Eßbares werde ich schon auftreiben. Oder wollen Sie einen Drink?«
Rocky verzog den Mund. »Bloß nichts essen. Aber wenn Sie vielleicht einen Schluck Milch hätten ... «
Sie gingen miteinander in die Küche, und dort fand Helen tatsächlich eine Tüte Milch und in einem der Schränke ein Glas.
Rocky riß die Tüte auf und trank in langen Zügen. Dann wischte er sich über den Mund. »War verdammt nett von Ihnen, daß Sie mich ins Haus geholt haben, Miß DeCorey«, sagte er. »Sie sind doch Helen DeCorey?«
Sie nickte. »Und jetzt sagen Sie bloß nicht, daß schon Ihre Mutter für mich geschwärmt hat und jeden meiner Filme kennt.«
»Nee. Meine Mutter hat mit Schauspielerinnen überhaupt nichts am Hut. Und mit Schauspielern auch nicht. Das war einer der Gründe, warum ich von zu Hause abgehauen bin. Eigentlich bin ich nämlich auch Schauspieler.«
Er fing ihren skeptischen Blick auf und fügte hinzu: »Ich weiß, ich weiß, hier in Hollywood gibt es fast nur Schauspieler. Der Tankwart, die Kassiererin bei Safeway, der Botenjunge vom Blumenladen, die Leute von der Müllabfuhr – alles solche wie ich, die mal hergekommen sind, um Karriere zu machen. Aber ich hab’ wirklich in New York die Schauspielschule besucht und meinen Abschluß gemacht. Danach hab’ ich ein paar Rollen an einem Off-Broadway-Theater gespielt, war sogar schon mal in einer TV-Serie, und dann bekam ich ein Angebot nach Hollywood. Eine recht gute Nebenrolle in einem Western, aber der Film wurde nie zu Ende gedreht, weil der Produzent pleite ging. Aber ich hatte in New York City alle Brücken hinter mir abgebrochen, und seitdem sitze ich hier. «
Er trank wieder und starrte auf die Tischplatte.
»Und wie lange ist das schon her?« fragte Helen. Sie sah ihn an und erkannte den Ausdruck in seinem Gesicht – diese Mischung aus Wut, Hoffnungslosigkeit, Bitternis und Nichtbegreifenwollen.
Sie hatte dasselbe empfunden, damals vor über zwanzig Jahren, als sie in dieses dreimal verfluchte, zauberische Hollywood gekommen war. Sie hatte dieselben Träume gehabt wie dieser Junge da, und dieselben Rückschläge erlebt.
Als sie Lee Bannister begegnet war, war sie am Ende gewesen, ein süßes blondes Ding, wie es Hunderte in Hollywood gab, dessen Illusionen von der großen Karriere Stück um Stück abgeblättert waren wie schlechter Verputz von einer alten Mauer.
»Anderthalb Jahre und zwölf Tage«, sagte Rocky, und es klang, als spräche er von einem halben Jahrhundert. »Zuerst hatte ich noch ein paar Jobs, eine Nebenrolle in einer Seifenoper, ein bißchen Edelkomparserie, hin und wieder einen Fernsehspot, aber irgendwann ging gar nichts mehr. Zwischendurch habe ich alles mögliche gemacht. Autos gewaschen, für eine Wäscherei gefahren, war Möbelträger, Nachtportier in einer Absteige–so Aushilfsjobs eben, weil man ja nichts Festes annehmen mag, sondern sich immer noch einbildet, eines Tages riefe irgendwer von irgendeinem Besetzungsbüro an, und man kriegte ein Superangebot. Was soll ich Ihnen das erzählen? Wahrscheinlich langweile ich Sie damit nur. Oder finden Sie es mal ganz lustig, Hollywood von der anderen Seite als Ihrer kennenzulernen?«
»Ich kenne diese Seite«, sagte Helen, und er blickte auf.
»Ehrlich? Moment mal, es heißt doch immer, Sie wären vom Julliard Drama Center weg für Ihre erste Filmrolle ausgesucht worden.«
»Das ist die offizielle Version.« Helen lächelte. »In Wirklichkeit habe ich mich genauso durchschlagen müssen wie Sie.«
Er runzelte die Stirn. »Na, das ist bestimmt übertrieben.«
Er hatte ihr vorhin von Lenny’s Partyservice erzählt und warum Pat Morris ihn aus dem Auto geworfen hatte.
»Was Ihren letzten ... Job betrifft – allerdings«, erwiderte Helen kühl. »Ich habe auch nicht für Nacktfotos posiert, falls Sie das meinen. Aber die üblichen Schwierigkeiten, wenn man als Miß oder Mister Unbekannt hierherkommt, kenne ich aus eigener Anschauung.«
»So was hab’ ich auch gemacht«, sagte Rocky fast trotzig. »Nacktfotos, meine ich. So, und jetzt haben Sie vermutlich die Nase voll, und ich verschwinde besser. Trotzdem – vielen Dank für Ihre Hilfe, Miß DeCorey. Sie waren sehr nett zu mir. «
Er schob sich hinter dem Tisch hervor, und als er vor ihr stand, mußte sie den Kopf in den Nacken legen, so groß war er.
Sie mochte große Männer. Und diese unwahrscheinlich blauen Augen ...
»Sie sind ein gutaussehender Bursche, Rocky«, sagte Helen. »Und wenn Sie nur halbwegs begabt sind, verstehe ich eigentlich nicht, daß Sie hier keine Chance bekommen haben.«
»Vielleicht kriege ich sie noch.« Er grinste schief. »Wie heißt es doch so schön: Talent setzt sich immer durch. Man darf nur nicht den Mut verlieren und nie aufgeben ... Ach, Scheiße!«
»Haben Sie denn einen vernünftigen Agenten?«
»Randy Donovan. Noch nie davon gehört, was? Das ist keine Bildungslücke, Madame. Wer kennt schon Donovan! Er ist eine absolute Null. Aber etwas Besseres habe ich nicht für mich interessieren können. Und glauben Sie ja nicht, daß ich es nicht versucht hätte. Ich habe bei allen Agenturen, die nur ein bißchen mitmischten, Klinken geputzt – mit dem Ergebnis, daß ich bei Donovan hängengeblieben bin. Er war der einzige, den ich breitschlagen konnte, mich in seine Kartei aufzunehmen. Und da ruhe ich nun in Frieden.«
»Tja, ohne einen guten Agenten ist es schwer ...«
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