Helen DeCorey gehörte zu den Schauspielerinnen Hollywoods, die von Natur aus schön waren. Es hatte keiner kosmetischen Operation oder anderer Korrekturen bedurft, um das Ebenmaß ihrer Gesichtszüge herzustellen. Sie hatte auch noch kein Facelifting vornehmen lassen, ebensowenig wie eine Brust- oder Bauchstraffung. Lediglich das Haar war getönt. Helen trug es halblang und stufig geschnitten, in einem weichen Mittelblond mit helleren Strähnen.
Im übrigen verdankte sie ihr gutes Aussehen – sie war vor ein paar Wochen fünfundvierzig geworden, wirkte aber immer noch wie Mitte Dreißig – ihrer Disziplin.
Wenig Alkohol, viel Schlaf, eine fast spartanische Ernährung, tägliche Gymnastik – und das alles seit über zwanzig Jahren.
Trotzdem, dachte Helen, ich bin fünfundvierzig, und kein Mensch würde auf die Idee kommen, mir die Rolle eines jungen Mädchens anzubieten. Aber niemand kam überhaupt auf die Idee, ihr eine Rolle zu geben, die ihrem Alter entsprach.
Sie war Helen DeCorey, der Superstar, die blonde, damenhafte, zeitlose Schönheit, elegant bis in die Fingerspitzen und von keinem wie auch immer gearteten charakterlichen Makel entstellt.
Das war ihr Image, und entsprechend waren auch die Drehbücher, die man ihr anbot.
An diesem Abend hatte Helen mit Lee J. Bannister, ihrem Agenten, im Ma Maison gegessen. Er hatte sie für eine Filmkomödie interessieren wollen. »Eine todsichere Sache, Helen, etwas, das du mit links machst.«
Sie hatte abgewinkt. »Ich will aber nichts mit links machen, Lee, verdammt noch mal! Ich will endlich eine Rolle, in der ich schauspielerisch gefordert werde. Nicht so ein seichtes Blabla, sondern irgend etwas, das mir den Durchbruch ins Charakterfach verschafft. Katherine Hepburn, Bette Davis, die Bergman und ein halbes Dutzend andere haben es doch geschafft, und ich bin mit der richtigen Rolle und dem richtigen Regisseur nicht schlechter als sie. Das weißt du doch, Lee.«
»Klar weiß ich’s. Und eines Tages habe ich auch den geeigneten Stoff für dich. Aber willst du denn bis dahin gar nichts anderes machen?«
Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Ich glaube nicht. Ich habe die Nase voll von den glatten, faden Salon-Schönheiten. Und ich habe genug verdient, um mir eine längere Pause leisten zu können. Ich gehe erst wieder ins Atelier, wenn ich mit etwas ganz Neuem herauskomme.«
Bannister hatte geseufzt. »Du bist eben zu schön, Helen-Darling, zu sehr Dame, das ist es! Dir traut man keine inneren Abgründe oder sonstwie gearteten Seelenkrämpfe zu. Aber ich bleibe am Ball, das verspreche ich dir. Irgendwann haben wir die Superrolle für dich.«
Zu schön ... Helen betrachtete stirnrunzelnd ihr Gesicht im Spiegel. Verdammt, sie konnte doch nicht in irgendwelche Alkohol- oder Drogenexzesse verfallen, die in ihrem Gesicht Spuren hinterließen und ihr Image zerstörten! Wozu war sie Schauspielerin? Mußte man eine Schlampe sein, um eine spielen zu können? Oder psychisch krank, kriminell, auf irgendeine Weise kaputt, um einen solchen Charakter glaubhaft darzustellen?
Helen wandte sich ab. Sie ging zur Fensterwand und öffnete per Knopfdruck die Glastüren zur Terrasse. Sofort strömte schwüle Hitze in den klimatisierten Raum.
Als sie die Stufen zum Pool hinunterging, tauchten aus einem Seitenweg zwei der insgesamt vier Schäferhunde auf, die nachts frei auf dem Grundstück herumliefen, um es zu bewachen. Sie waren auf den Mann dressiert, und vor einem halben Jahr hatten sie ein paar jugendliche Rowdys, die über die Mauer geklettert waren, übel zugerichtet, bevor der Wachmann dazugekommen war und die Hunde zurückgepfiffen hatte.
Die Tiere kannten jeden, der zum Haus gehörte, und als Helen sie anrief, kamen sie hechelnd auf sie zu und ließen sich von ihr die Köpfe tätscheln.
Während sie langsam weiterging, liefen sie voraus, die Nasen am Boden, und verschwanden zwischen den Sträuchern, die einen Weg in Richtung der Parkmauer begrenzten. Von dort hörte Helen sie plötzlich wütend bellen.
Im Näherkommen sah sie, wie die Tiere aufgeregt an der Seitenpforte hochsprangen, die in die Mauer eingelassen war und in der Regel vom Personal oder den Lieferanten benutzt wurde.
Die beiden anderen Schäferhunde kamen von irgendwoher über den Rasen gerannt, und gleich darauf tauchte ein uniformierter Wachmann auf. Ein Pfiff, und die Hunde waren still.
Helen hörte, wie draußen auf der Straße eine Frauenstimme irgend etwas schrie. Dann heulte ein Automotor auf, Reifen kreischten über den Asphalt, und ein Wagen fuhr in halsbrecherischem Tempo davon.
Der Wachmann war zur Pforte gelaufen und leuchtete mit einer starken Halogenlampe nach draußen.
»Was ist los?« fragte Helen, während sie näher kam.
Der Mann richtete sich auf. »Da draußen liegt jemand, Miß DeCorey. Scheint bewußtlos zu sein, der Kerl. Oder total betrunken.«
Er richtete den Strahl seiner Lampe auf die Gestalt, die Helen durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe erkennen konnte. Sie sah dunkle Hosen und ein helles Jackett.
»He, Sie!« rief der Wachmann. »Was ist los? Sind Sie verletzt? Können Sie aufstehen?«
Der Mann bewegte sich, versuchte, sich auf den Händen aufzurichten, und sackte stöhnend wieder zusammen.
Helen hörte, wie er würgte.
»Vielleicht ist er angefahren worden. Schließen Sie doch das Tor auf, und sehen Sie nach.«
Der Wachmann warf ihr einen zögernden Blick zu. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich besser die Polizei rufen. Die kann sich um ihn kümmern.«
»Aber wenn er einen Arzt braucht? Was kann denn groß passieren. Die Hunde sind ja hier. Also machen Sie schon.«
»Auf Ihre Verantwortung, Miß DeCorey.« Der Wachmann hatte einen Hauptschlüssel, der für sämtliche Türen des Grundstücks paßte.
Er schloß die Pforte auf und beugte sich über den Mann, der auf dem Pflaster lag. Die Hunde blieben auf seinen Befehl hin zurück. Helen hörte, wie er mit dem Mann sprach.
»Brauchen Sie einen Arzt? Oder soll ich die Cops rufen? Was ist überhaupt passiert?«
Er drehte ihn an den Schultern herum und fluchte unterdrückt. »Verdammt, das Schwein ist vollgek... Ich meine, er hat sich übergeben, Miß DeCorey. Ich hab’s ja gesagt, er ist betrunken. Lassen wir ihn liegen, da kann er seinen Suff ausschlafen.«
Helen kam nun doch auf die Straße. Sie sah einen jungen schwarzhaarigen Mann. Gesicht und Arme waren aufgeschürft und blutig. Der säuerliche Geruch von Erbrochenem stieg ihr in die Nase.
In diesem Moment schlug Rocky stöhnend die Augen auf. »Verdammtes Frauenzimmer«, murmelte er. »Hat mich ... aus dem Auto geschmissen und fast überfahren.« Er stieß zischend die Luft aus, als er sich aufstützen wollte. »O Scheiße, mein Arm ...«
»Haben Sie Schmerzen?« fragte Helen. »Vielleicht ist er gebrochen.«
Halb benommen blickte Rocky sie an. »Weiß nicht. Kümmern Sie sich nicht um mich. Lassen Sie mich eine Weile hier liegen. Wenn mir besser ist, verschwinde ich.«
»Das ist das Beste, was du tun kannst, Junge«, sagte der Wachmann. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Helen widersprach. »In diesem Zustand kann er unmöglich draußen bleiben. Wir müssen ihn ins Haus bringen. Wo ist denn Ihr Kollege? Sie sind doch immer zu zweit hier.«
»Joey hat sich ein Stündchen aufs Ohr gelegt. Normalerweise genügt es, wenn einer von uns wach ist und seinen Rundgang macht. Aber ich kann ihn per Sprechfunk herbeirufen.«
»Dann tun Sie das.« Helen blickte Rocky an, und etwas in seinem aufgeschürften, zerschundenen Gesicht mit den verzweifelten Augen traf sie mit sonderbarer Intensität.
Eben noch hatte sie sich zum Gotterbarmen gelangweilt. Und sie hatte ein wenig Angst vor der Nacht gehabt. Sie schlief schlecht, aber sie vermied es, schwere Schlafmittel zu nehmen.
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