e) Erwerb und Sichverschaffen
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Spiegelbildlich zur Abgabe versteht die h.M. unter Erwerbdie Erlangung der tatsächlichen Macht zur freien Verfügung über das Betäubungsmittel im Einverständnis mit dem zuvor Verfügungsberechtigten unabhängig vom Zweck des Erwerbs. Der Erwerb kann an ein entgeltliches Rechtsgeschäft knüpfen, mithin unterscheidet das Gesetz bei potentiellen Konsumenten nicht mehr zwischen der „Grundlage“ des Verfügungswechsels (Kauf, Schenkung, Tausch) bzw. dessen Zweck (auch die fürsorgliche Wegnahme von Drogendurch ein Elternteil fällt unter den Erwerb, zu denken ist aber in derartigen Fällen an einen Tatbestandsausschluss nach dem Prinzip der Risikoverringerung bzw. an eine Rechtfertigung nach § 34 StGB[217]), sondern nur hinsichtlich des Einvernehmensbzgl. der Verfügungsmachtübertragung. Liegt diese nicht vor – so etwa beim „Diebstahl“ von Drogen – kommt ein Sich-Verschaffen in Betracht, welche als Auffangmodalität (sozusagen als Pendant zum Inverkehrbringen, Rn. 83) jede sonstige Form der Erlangung von Verfügungsmacht über Drogen erfasst.[218]
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Hat der Konsument keine Verfügungsmacht erlangt (was bei gemeinsamen Konsumrunden oder Partys denkbar ist), kann der Konsument für den bloßen Verbrauch nicht bestraftwerden; hingegen macht sich der Dritte wegen Verbrauchsüberlassung(siehe Rn. 84) strafbar.[219] Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Dritte dem Angeklagten einen fertigen Joint zum Konsum übergibt oder lediglich das Marihuana überreicht, um für ihn einen Joint zum anschließenden Verzehr zu bauen. Solange der Dritte sich unmittelbar bei dem Angeklagten aufhält, gibt er seinen unmittelbaren Besitzwillen nicht auf.[220] Entsteht allerdings zwischen der Empfangnahme und dem Verbrauch eine Zeitspanne, in deren Rahmen eine beliebige Verfügbarkeit gegeben ist, oder entfernen sich Übergebender oder Empfänger voneinander, bevor der Konsum erfolgt ist, erlangt der Empfänger die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Betäubungsmittel und es lässt sich ein unerlaubter Erwerb bejahen (etwa wenn der Angeklagte das Betäubungsmittel in die Hosentasche gesteckt hat).[221]
5. Missbräuchliche Verschreibung und Abgabe aus der Apotheke
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Ärzte, Apotheker und Mitarbeiter in Heil- und Therapieeinrichtungen sind als Beteiligte am System der medizinischen Versorgung von bestimmten Erlaubnisvorbehalten des Betäubungsmittelrechts freigestellt (siehe bereits Rn. 48). Als „arztspezifische“ Handlungsmodalitäten unterliegen die Verschreibung, Verabreichung oder Verbrauchsüberlassung durch den Arzt keinem Erlaubnisvorbehalt. Dennoch ist der „Vertriebsweg“ bzw. die Versorgung des Patienten streng reglementiert. Der Arzt hat bei seiner Verschreibung die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 BtMGund die diesen konkretisierenden Vorschriften der BtMVVzu beachten.[222] Erfolgt eine Verschreibung durch den Arzt (verschreibungsfähig sind lediglich Betäubungsmittel der Anlage III) so darf der Apotheker das Betäubungsmittel (nur) auf die Vorlage des Rezepts abgeben, § 4 Abs. 1 Nr. 1c BtMG. Halten die Beteiligten den vorgesehenen Vertriebsweg von Betäubungsmitteln nicht ein oder verstoßen sie gegen ihre Prüfpflichten, handeln sie ebenso illegal. Der Verstoß gegen die sich an den Arzt richtenden Pflichten (§ 13 Abs. 1 BtMG) wird von § 29 Abs. 1 Nr. 6 BtMG sanktioniert;[223] die illegale Abgabe aus Apotheken entgegen § 13 Abs. 2 BtMG wird hingegen von § 29 Abs. 1 Nr. 7 BtMG erfasst.
6. Sonstige Tathandlungen
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Die sonstigen Modalitäten des § 29 Abs. 1 BtMG haben praktisch kaum eine Bedeutung, sodass sie im Folgenden nur äußerst knapp skizziert werden: Die unerlaubte Werbung (Nr. 8)[224] bezieht sich ausschließlich auf das Werbeverbot im legalen Betäubungsmittelverkehr (§ 14 Abs. 5 BtMG), erfasst also nicht das pauschale Anpreisen des Betäubungsmittelkonsums bzw. die öffentliche Verherrlichung des Drogenmissbrauchs. In § 29 Abs. 1 Nr. 9 BtMG findet sich eine Vorschrift, die das Erschleichen einer Verschreibung (Nr. 9) sanktioniert.[225] § 29 Abs. 1 Nr. 11 BtMG erfasst das Gewähren einer Verbrauchsgelegenheit außerhalb eines Konsumraums i.S.d. § 10a BtMG (Nr. 11),[226] ferner sind das Auffordern zum unbefugten Verbrauch als verselbstständigte Teilnahmehandlung am (grundsätzlich erlaubten Konsum, Nr. 12),[227] das Bereitstellen von Geldmitteln (das ebenfalls im Regelfall eine Beihilfe zum Handeltreiben darstellt, Nr. 13)[228] sowie etwaige Zuwiderhandlungen gegen eine Rechtsverordnung (in Betracht kommen vornehmlich Verstöße gegen die BtMVV) unter Strafe gestellt.
IV. Qualifikationstatbestände
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Betäubungsmittelstrafrecht wird häufig auch abwertend als „ Mengenstrafrecht“ bezeichnet, weil die Art und Menge der Drogen, mit denen der Täter unerlaubt umgeht (besitzt, abgibt, Handel treibt), nicht nur ein bestimmendes Strafzumessungsmerkmal, sondern auch ein zentrales Strafschärfungs-, also Qualifikationstatbestandsmerkmal darstellt. Daneben finden sich in den §§ 29a ff. BtMG auch „klassische“ Qualifikationsmerkmale wie etwa die bandenmäßige oder gewerbsmäßige Begehung, die Verursachung des Todes eines Konsumenten (§ 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) sowie das Beisichführen von Waffen und sonstigen Gegenständen, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG). Als besonders verwerfliche Art und Weise der Begehung von Betäubungsmitteldelikten wird auch die Einbeziehung Minderjährigerin den Betäubungsmittel-Verkehr strafschärfend berücksichtigt. Hier differenziert der Gesetzgeber im Wesentlichen zwischen der Abgabe von Drogen an Minderjährige (wobei die profitorientierte Abgabe nochmals verschärft bestraft wird) und der besonders verwerflichen Einbeziehung von Jugendlichen in den illegalen Drogenhandel.[229]
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Hinsichtlich des Umgangs mit nicht geringen Mengen erkennt man in den §§ 29a ff. BtMG ein Stufensystem. Auf erster Stufe erfasst § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG zahlreiche Formen des Umgangs mit nicht geringen Mengen. Der Strafrahmen erhöht sich nochmals speziell im Falle der Einfuhr nicht geringer Mengen, § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG. Die Kumulation der Qualifikation des § 30 Abs. 1 Nr. 1 mit § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG führt zu § 30a BtMG, mithin zu einem Strafrahmen von nicht unter fünf Jahren.
2. Speziell: zum Merkmal der nicht geringen Menge (§§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4, 30a Abs. 1 BtMG)
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§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG stuft das unerlaubte Handeltreiben, die Herstellung, die Abgabe oder den Besitz zu einem Verbrechen hoch, wenn sich die Handlung auf eine nicht geringe Menge von Betäubungsmitteln bezieht (§ 30 Abs. 1 Nr. 4, 30a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 BtMG). Dem Begriff der nicht geringen Mengen steht derjenige der geringen Menge gegenüber, die im Kontext der Bestimmungen zur Einstellung wegen Geringfügigkeit bzw. zum Absehen von Strafe bestimmt werden muss. Freilich deutet der Begriff „gering“ auf einen Dualismus hin (gering/nicht gering); weil aber nicht jeder Fall einer Bagatelle in ein Verbrechen „umschlägt“, muss man davon ausgehen, dass zwischen den beiden Rechtsbegriffen noch so etwas wie eine „normale Menge“ existiert, bei der zwar § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG nicht einschlägig ist, gleichsam allerdings auch eine Einstellung wegen Geringfügigkeit ausscheidet.
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Die „nicht geringe Menge“ wird nicht durch das Gesetz bzw. den Verordnungsgeber bestimmt, mithin findet sich weder eine Begriffsbestimmung(der sich zugleich eine Methodik der Festsetzung entnehmen ließe) noch werden besonders gefährliche Dosen in der Positivliste festgelegt. Entsprechend musste die Rechtsprechung Leitlinien zur Bestimmung des Grenzwerts für einzelne Drogen entwickeln und Mengen für bestimmte (besonders häufig vorkommende) Drogen festsetzen. Während aus Praktikabilitätsgründen für die Bestimmung der geringen Menge die Gewichtsmenge als maßgeblich betrachtet wird ( Rn. 136), muss beim strafschärfenden Merkmal der nicht geringen Mengen – auch unter Berücksichtigung rechtsgutorientierter Erwägungen – die Wirkstoffmengeausschlaggebend sein.[230]
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