Der Äbtissin war das nicht entgangen.
»Sie können sich nicht erinnern, nicht wahr?«, wollte sie jetzt von ihm wissen.
»Ja ... na ja ... es scheint zumindest so, als habe mich mein Gedächtnis für einen Moment im Stich gelassen«, gab er widerwillig zu. »Wenn ich später ein wenig zur Ruhe gekommen bin, wird es mir sicher wieder einfallen.« Er wollte sich keine Blöße geben.
»Es ist so, sie werden sich nicht mehr erinnern, das können Sie mir glauben.« Sie sah auf die Uhr. »Bitte entschuldigen Sie mich, Jared, aber meine Pflicht ruft.«
Die Äbtissin erhob sich und reichte dem Farmer, der ebenfalls aufgestanden war, die Hand. Es war ein sanfter Händedruck.
Dabei sagte sie beiläufig: »Sie wissen wahrscheinlich, dass Saskia Lindström hier bei uns ist? Ein wunderbares Mädel ... so begabt. War sie nicht mit ihrem Sohn ... befreundet?« Es lag eine seltsame Betonung in dem letzten Wort.
»Wenn Sie mit ihr sprechen möchten, lasse ich sie rufen. Es wäre doch schade, wenn Sie die Nachricht ...« Sie ließ die Hand des Farmers los, als sie von ihm unterbrochen wurde.
»Vielen Dank, machen Sie sich bitte keine Mühe, ich werde erst einmal in mein Zimmer gehen und nach meinem Hund schauen. Dann werde ich in der Klosterschenke eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Ich kenne den Wirt und möchte ihn begrüßen, wenn ich schon mal hier bin. Außerdem habe ich Hunger. Vielleicht ergibt sich ja später am Abend noch die Gelegenheit oder morgen. Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme und meine Frau in die Arme nehme. Wir werden viel Kraft brauchen. Ich darf gar nicht daran denken, was passiert, wenn wir die Nachricht den Großeltern überbringen. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft ... und dafür, dass Sie mir Ihre wertvolle Zeit geschenkt haben.«
»Keine Ursache, Jared, fühlen Sie sich hier bitte wie zu Hause. Und wenn es Ihnen Ihre Zeit erlaubt … ich weiß, dass es auf einer Farm immer viel zu tun gibt … kommen Sie uns mal wieder besuchen und bringen Sie Ihre Frau mit ... vielleicht zu einem unserer Konzertabende? Es würde mich sehr interessieren, was ein Mann mit Ihrer Erfahrung zu unseren landwirtschaftlichen Einrichtungen sagt. Es gibt ja immer etwas zu verbessern, nicht wahr? Ich wünsche Ihnen viel Kraft für all das, was jetzt vor Ihnen liegt.«
Damit verschwand die Äbtissin und er bekam sie auch bis zu seiner Abreise nicht mehr zu Gesicht.
Das Letzte, was Jared wollte, war, Saskia zu begegnen. Sie war damals bei dem Trupp junger Leute gewesen, die mit ihren kläffenden Kötern den Spuren seines Sohnes gefolgt waren, nachdem er dieser komischen Seherin Brigit, einer Freundin Saskias, eine kräftige Beule verpasst hatte. Jared war sich nicht mehr so sicher, ob Vincent zu der Kundschaft dieser Frau gehört hatte, bei der man nicht erkennen konnte, ob sie überhaupt eine Frau war. Wahrscheinlich wäre die Nachricht vom Tod seines Sohnes Wasser auf die Mühlen des Mädchens und dann schon lange vor ihm in der Heimat angekommen. Bei Scotty konnte er sich sicher sein, dass der es nur Elisabeth und seiner Familie erzählt hatte.
Seines Wissens war Vincent zwar mit Saskia Lindström zur Schule gegangen, aber enger befreundet waren die beiden nicht gewesen. Sein Sohn hatte keine feste Freundin. Auf dem Weg in sein Zimmer dachte er darüber nach, wie die Äbtissin annehmen konnte, dass Vincent mit Saskia befreundet gewesen war. Jeder wusste doch, dass sie mit Effel Eltringham liiert gewesen war, und das schon seit langem.
Minuten später lag er auf seinem Bett in dem geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer mit der Terrasse, auf die jetzt der eben aufgegangene Mond schien. Er wollte sich nur ein wenig ausruhen und über das gerade geführte Gespräch nachdenken, bevor er in der Schenke zu Abend essen würde, als ihm ein Gedanke kam. Vielleicht hatte Vincent doch heimlich von diesem Mädchen geschwärmt, weil er ... ja gerade, weil sie die Einzige war, über die er nicht in abfälliger Weise gesprochen hatte, jedenfalls nicht, soweit sich Jared erinnern konnte. Er hatte sich im Kreise seiner Freunde über sie auch nie lustig gemacht. Nicht dass der Farmer es gebilligt hätte, dass sein Sohn oder wer auch immer in dieser Weise über Frauen sprach, aber er rechnete das damals zu den Verhaltensweisen, die man einem heranwachsenden Mann, der sich seine Hörner noch abstoßen musste, gerade noch zubilligen konnte.
Inzwischen hatte er erkannt, dass das falsch gewesen war.
Dass Vincent viel zu sehr verwöhnt worden war, und zwar von allen Seiten, war ihm seit Langem klar und er hatte sich mehr als einmal vorgeworfen, sich nicht besser gegen alle Großeltern und in diesem Punkt auch gegen seine Frau durchgesetzt zu haben.
Bruder Jonas freute sich offensichtlich, als Jared die Klosterschenke betrat. Nach einem herzlichen Schulterklopfen und einer lauten Begrüßung: »Was führt denn den Herrn von Raitjenland hierher? Es geschehen ja noch Zeichen und Wunder!«, brachte der Wirt ihn an einen der Tische in der Nähe der Theke und empfahl ihm zunächst das Gericht des Tages. Das Rumpsteak mit Süßkartoffeln und heimischen Pilzen verspeiste der Farmer wenig später mit großem Appetit. Dazu brachte ihm die Kellnerin frisch gezapftes Bier in einem Glaskrug.
Ihm wurde bewusst, dass er seit Tagen keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Jesper bekam einen großen Knochen, den er lautstark abnagte. Als Jared mit dem Essen fertig war, setzte sich Bruder Jonas zu ihm an den Tisch. Er hatte Zeit, denn die meisten Gäste würden später kommen. Nachdem sie über den letzten Pferdemarkt in Angwat gefachsimpelt hatten und der Wirt ihm versichert hatte, nicht böse zu sein, weil er ihn damals bei diesem Prachtgaul überboten hatte, erzählte der Farmer nach dem zweiten Krug Bier vom Tod seines Sohnes. Dabei ließ er allerdings die näheren Umstände über das genaue Wo und Wie aus. Er erwähnte nur, dass er ihn in den Bergen gefunden habe und nun hier sei, um sich Rat von der Äbtissin einzuholen.
Bruder Jonas bemerkte sehr wohl, dass der Farmer nicht darüber reden wollte, und so beließ er es dabei, sein Beileid zu bekunden. Er wunderte sich allerdings darüber, dass der Farmer ausgerechnet die Äbtissin von Haldergrond um Hilfe bei der Aufklärung gebeten hatte.
So kam man bald darauf wieder auf Pferde zu sprechen.
Jared müsse, jetzt wo er schon einmal hier war, unbedingt seine Stallungen besichtigen. Nachdem Jared ihm dies zugesichert hatte, trennte man sich unter Schulterklopfen kurz vor Mitternacht.
Bruder Jonas dachte nach. Der Farmer besuchte Haldergrond nicht, weil sein Sohn gestorben war. Der Grund konnte nur der Umstand des Todes sein, also all das, worüber Jared nicht hatte sprechen wollen.
Er hat ihn irgendwo im Gebirge gefunden. Warum hat er nicht gesagt, wo das war? Und warum kommt er dann hierher, anstatt sofort nach Haus zu seiner Frau zu gehen? Was hat die Äbtissin damit zu tun? Was hat er sich von seinem Besuch bei uns bloß erhofft?, waren seine Gedanken. Seine Neugier war entfacht. Er würde in den nächsten Tagen Augen und Ohren noch weiter offen halten als sonst.
In der Nacht schlief Jared von Raitjenland tief und wachte um fünf Uhr auf. Er hatte nicht bemerkt, dass ein Phuka mitten in der Nacht in sein Zimmer geschlichen war, sich neben ihn gesetzt und ihm Dinge eingeflüstert hatte, die er im Wachbewusstsein für unmöglich gehalten hätte. Noch nicht einmal Jesper war aufgewacht.
Bereits vor Sonnenaufgang brach der Farmer mit neu gestärktem Willen auf. Es würde sich alles aufklären. An diesem Morgen hatte er eine Zuversicht gefunden, wie er sie selten in seinem Leben gespürt hatte. Er wusste nun, wonach er suchen musste. Er war sich sicher, auch allen anderen Geheimnissen auf die Spur kommen zu können. Die Stallungen des Bruder Jonas, nach denen ihm im Augenblick nicht der Sinn stand, würden bis zum nächsten Besuch warten müssen, wenn es einen solchen jemals geben sollte. Dieses ganze Haldergrond war ihm suspekt, mehr als jemals zuvor.
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