Der Farmer beugte sich in seinem Sessel nach vorne.
»Das konnte mein Sohn nicht wissen ... da bin ich mir sicher. Vielleicht hat Vrena ihm früher einmal davon erzählt, aber inzwischen ist mein Sohn erwachsen und …«, der Farmer hielt inne, weil das Bild des toten Vincent vor seinem geistigen Auge aufgetaucht war und sich seine Augen sofort mit Tränen füllten. Sie rannen ihm die Wangen herab. Er nahm ein Taschentuch aus der Jacke und wischte sie ab. Dann lehnte er sich wieder zurück und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Verzeihen Sie … aber ich glaube diesen ganzen …«, hielt er inne, denn er wollte die Äbtissin nicht verärgern.
»Sie wollten Unsinn sagen, nicht wahr? Sie können es gerne als Unsinn betrachten, das steht Ihnen frei, Jared. Sie brauchen sich auch Ihrer Tränen nicht zu schämen. Niemand braucht sich dafür zu entschuldigen, dass er weint«, sagte sie jetzt in einem sanften Tonfall. »Männer, die weinen, beweisen Stärke. Unsere Tränen sind die Perlen der Seele.«
Das hatte er bisher anders gesehen. Das letzte Mal, dass er sich erinnern konnte geweint zu haben, war, als er seine geliebte Akira auf Geheiß seines Vaters wieder in die Freiheit hatte fliegen lassen. Er hatte das Adlerweibchen als Jungvogel in einer halsbrecherischen Aktion aus seinem Horst gestohlen, dann aber liebevoll großgezogen. Und da war er viel jünger gewesen. Nicht mehr ein Knabe, aber auch noch kein Mann. Die Narbe, die sich gut sichtbar über einen Teil seiner Stirn zog, zeugte noch immer von diesem waghalsigen Abenteuer.
Hätten die Hunde sich nicht auf die verzweifelt angreifenden Altvögel gestürzt und sie damit vertrieben, hätte es wesentlich schlimmer ausgehen können.
»Aber warum ist uns dann nichts geschehen, wenn dieses Tal so gut bewacht wird, wie Sie behaupten ... ich meine, dem Freund meines Sohnes und mir?«
»Das weiß ich nicht, Jared, ... ich sagte schon, dass Sie vielleicht einfach Glück hatten und viele der Wächter nicht mehr dort sind.«
Die Äbtissin lächelte. Seltsam, aber er hatte für einen Moment den Eindruck gehabt, dass sie es sehr wohl hätte sagen können. Sie war offensichtlich sehr gut informiert.
»Wer, um Gottes willen, hat das getan? Können Sie sich vorstellen, mit welcher Brutalität mein Sohn getötet worden ist? Das war einfach ... unmenschlich!« Er schüttelte verzweifelt den Kopf und ahnte nicht, wie nah er mit dieser Aussage an der Wahrheit war. »Was soll so schlimm daran sein, dass ein unschuldiger junger Mann mit seinem Leben dafür bezahlen muss, nur weil er zufällig – und ich bin mir da absolut sicher, dass es Zufall war – in dieses Tal geraten ist?«
»Nun, ich glaube, dass es irgendeinen Hinweis gegeben hat, dem er hätte entnehmen können, dass es nicht nur verboten, sondern auch sehr gefährlich war weiterzugehen.«
Jared wollte gerade vehement widersprechen, als ihm die Inschrift auf der merkwürdigen Steintafel in der Höhle, in der sein Sohn übernachtet oder zumindest zu Abend gegessen haben musste, in den Sinn kam. Sicher hatte Vincent diese Tafel auch gesehen und dann hatte er natürlich ebenfalls den Gang gleich daneben entdeckt, der ihn schließlich direkt in dieses verfluchte Tal geführt hatte. Dass es verflucht war, davon war Jared inzwischen überzeugt. Das behielt er allerdings für sich. Er schüttelte nur den Kopf.
»Ja, ich habe eine Inschrift in einer der Höhlen gesehen, darauf wurde allerdings vor gar nichts gewarnt. Dort stand irgendetwas von einem Geheimnis, das von einer starken Macht bewacht werden würde. Ich erinnere mich, dass der Text nicht vollständig war. Wissen Sie, auch wir haben als Kinder in den Höhlen der Agillen gespielt und so manchen Schabernack getrieben … auch mit uns ist die Fantasie während unserer Abenteuerspiele mehr als einmal durchgegangen.«
»Nur, dass diese Inschrift weder ein Schabernack noch das Produkt kindlicher Fantasien war«, wurde er unterbrochen.
»Na gut, aber dann frage ich Sie noch einmal, verehrte Äbtissin: Warum ist uns dann nichts geschehen? Wo sind die Wächter hin? Warum sind sie nicht mehr da?«
Er wollte nicht lockerlassen, aber Adegunde antwortete auf seine letzte Frage gar nicht, sondern schaute ihn nur durch fast geschlossene Augenlider hindurch aufmerksam an. Er brauchte auch keine Antwort, denn er glaubte nicht an diese Geschichten von Schätzen, Gnomen und irgendwelchen Wächtern.
»Es war niemand dort!«, beharrte er. »Ich war schließlich ein paar Tage da oben und mir wäre nicht entgangen, wenn in diesem Tal jemand leben würde, das können Sie mir glauben.
Früher, ja sehr viel früher, haben dort Menschen gelebt. Aber jetzt gibt es außer Hühnern, Schafen und wilden Ziegen nichts Besonderes ... wenn man einmal von der unglaublichen Vegetation, den Ruinen und der mächtigen Burg absieht ... ach ja ... und von diesem Museum mit den merkwürdigen Bildern von noch merkwürdigeren Wesen … und dem Segelschiff ... aber das wissen Sie ja sicher auch.« Jared lächelte gequält.
»Hätten Sie Ihrer Amme besser zugehört, wüssten Sie, dass es dort oben mehr gibt, Jared von Raitjenland«, sagte die Äbtissin mit mildem Tadel, ohne auf seine letzten Bemerkungen einzugehen. Es war lange her, dass ihn jemand getadelt hatte.
»Sie meinen die Geschichte mit den Gnomen und ihrem Schatz? Ist das Ihr Ernst? Sind das die Gestalten, die ich auf den Bildern in diesem Museum gesehen habe? In den Märchenbüchern unserer Kinder werden die aber anders dargestellt.
Vrena hat so etwas meinem Sohn mehr als einmal erzählt ... und sie hat ihm damit jedes Mal eine Heidenangst eingejagt. Wissen Sie, wie oft er deswegen nachts zu uns ins Bett gekrochen kam? Am ganzen Körper hat er gezittert! Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon? Am nächsten Tag noch war er kaum zu irgendetwas zu gebrauchen.«
»Ja, genau diese Geschichten meine ich ...«
»Und diese Gnome bewachen einen sagenhaften Schatz ... das wollen Sie mir jetzt auch erzählen«, unterbrach er die Äbtissin. Es sollte hämisch klingen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen.
»So ist es wohl«, erwiderte Adegunde, ohne sich von dieser offensichtlichen Unhöflichkeit beeindruckt zu zeigen. »Sie bewachen dort oben etwas, das für sie einen unermesslichen Wert besitzt ... seit sehr langen Zeiten übrigens. Sie und Scotty dürften die ersten Menschen sein, die das Tal ohne Einladung betreten und wieder lebend verlassen haben.«
Da ... da war es wieder, dieses Aufblitzen in ihren Augen, länger diesmal – blutrot – und jetzt war sich Jared zweier Dinge sicher. Es war keine Lichtspiegelung gewesen und Scotty hatte er namentlich nicht erwähnt. Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher. Es war merkwürdig, aber wie sie ihm dort so gelassen in dem hohen Stuhl gegenübersaß, war er fast geneigt, ihr diese Geschichten zu glauben.
»Dann bin ich einmal gespannt, wie man verhindern möchte, dass jetzt noch mehr Menschen kommen ... nachdem zwei von uns den Weg kennen, die kein Gelübde abgelegt haben und auch nie eines ablegen werden«, gab er jetzt mit Spott in der Stimme zurück.
»Sind Sie sich da ganz sicher, Jared, dass Sie den Weg wiederfinden?«, fragte Adegunde unbeeindruckt und ruhig mit hochgezogener Augenbraue und bohrendem Blick aus jetzt wieder dunkelgrünen Augen.
»Na klar bin ich das«, wollte er gerade sagen, als ihm im gleichen Moment bewusst wurde, dass er es wirklich nicht könnte. So sehr er auch nachdachte, seine Erinnerung an den Zugang war, auf welche Weise auch immer, gelöscht.
Jesper hatte vor ein paar Tagen die Höhle gefunden, weil er die Reste von Vincents Abendessen gewittert hatte, die dort um die erkaltete Feuerstelle gelegen hatten. Typisch Herr Sohn, hatte der Farmer damals gedacht. Daran, dass er einen steilen Hang hatte erklimmen müssen um sie zu erreichen, erinnerte er sich noch. Auch diese Inschrift auf der steinernen Tafel hatte er, wenn auch nur bruchstückhaft, vor Augen … aber Steilhänge und Höhlen gab es in den Agillen viele. Wer wusste das besser als er. Alles Nachgrübeln half nichts, zumindest im Moment nicht, gerade als ob die letzten Strahlen der Sonne, die eben hinter den Wäldern Haldergronds verschwand, seine Erinnerungen einfach so mir nichts dir nichts mitgenommen hätten. Er konnte es nicht fassen. Er war geradezu berühmt für seinen Orientierungssinn. Einen einmal entdeckten ergiebigen Jagdgrund fand er betrunken im Schlaf wieder, mochte er auch noch so weit von seiner Heimat entfernt sein. Er erschrak.
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