Hier zeigt sich: Wer beruflich in einem hohen Maß autonom sein kann, in seinen Kompetenzen anerkannt wird und sich seinem Team zugehörig fühlt, kann Topleistungen erbringen. Auf dem Fußballplatz genauso wie im richtigen Leben – und zwar vor allem dann, wenn alle drei Bereiche auf hohem Niveau in der Balance sind. Andi Herzog jedenfalls war bei Rapid angekommen.
KAPITEL 6:
„DAS WAR A WAHNSINN“ – ZWISCHEN DEN EXTREMEN
RAPID WIEN 1983–1986
Schon seit Stunden regnete es in Strömen in der Wiener Südstadt – und das Ende Mai. Wer das Wetter rund um Wien und den Wienerwald über Jahre ein wenig studiert, der kennt diese ergiebigen Regenfälle. Meist bleiben die Wolken förmlich im Wienerwald hängen, um dort und über der Donaumetropole abzuregnen – doch nach einigen Stunden ist der Spuk normalerweise vorbei, und die Sonne strahlt wieder vom Himmel. Aber nicht so im Mai 2021. Gefühlt regnete es jedenfalls täglich und fast ununterbrochen, was Andi Herzog zu einem „Da wirst ja deppert“ hinreißen ließ, als ich wie abgemacht gegen 10.40 Uhr die Heckklappe seiner Limousine öffnete, um Rucksack, Schirm und Wanderschuhe im Auto zu verstauen. Doch es half nichts. Das Schnelligkeitstraining seiner beiden Söhne Luca und Louis stand an. Da galt es auch dem Regen zu trotzen.
Zuvor hatten mich die drei plus Vinzi, einem gleichaltrigen Freund von Louis, am Hotel in Perchtoldsdorf abgeholt, und weiter ging es Richtung Laufbahn in die Südstadt. „Ist das nicht der Weber Franzl?“, rief Luca plötzlich während der Fahrt. Ein Blick in den Rückspiegel des „Zauberers“ genügte – und in der Tat, es war der Weber Franzl!
Andi Herzog hatte Ende der 80er-Jahre mit ihm bei Rapid gekickt und ihn immer mal wieder unterstützt in den letzten Jahren, wie das im besten Fall und unter Freunden möglich ist. „Ist er aus dem Bus ausgestiegen?“, fragte Herzerl besorgt, um gleich hinzuzufügen: „Na, hoffentlich hat er seinen Führerschein nicht verloren.“
Doch laut Luca strawanzte Franz Weber fröhlich und zu Fuß durch die engen Gassen von Maria Enzersdorf. Typisch Andreas Herzog: Er hatte einfach ein Herz für viele ehemalige Mitspieler, unterstützte den einen oder anderen mit seinem Know-how genauso wie mit möglichen Aufgaben, Ideen oder Jobs. Nicht jeder ehemalige Fußballprofi konnte mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, Titeln und Erfolgen umgehen, und wo Höhen überwunden und größere Erfolge gefeiert wurden, waren die Tiefen in der Regel nicht fern – und übermäßiger Genuss jedweder Art verlockend, von Casinogängen über das eine oder andere Achtel bis hin zur Pferderennbahn.
Doch zurück in den strömenden Regen und raus auf den Platz! Ein individuelles Lauftraining für den Nachwuchs mit Laufspezialist Andreas Nöhmayr war angesagt. Durch viermal 200-Meter-Läufe sollte auf lange Sicht die Schnelligkeit gesteigert werden. In einfachen Worten ausgedrückt: Effizienz der Lauftechnik steigern, Energie sparen, schneller werden. Auf jedwedes Aufwärmprogramm wurde heute allerdings wetterbedingt verzichtet.
„Super Schritttechnik, kurz und schnell“, motivierte Papa Herzog seinen Sohn Louis, der nach den ersten 200 Metern noch mit sich haderte, hatte ihn doch ausgerechnet der beste Freund Vinzi auf den letzten Metern noch überholt. In ähnlichen Situationen nahm Louis sonst auch schon einmal auf dem Boden Platz, heute aber wollte er es wissen. Kinder halt, und alles ein Lernprozess – und aufgeben tut man bekanntlich nur einen Brief. Louis ging in sich, trotzte der neuerlichen Regenschlacht und wuchs in den folgenden Läufen über sich hinaus. Schlusspfiff eine Stunde später – mehr war bei diesem Wetter einfach nicht möglich.
Ob der junge Andi Herzog an gleichem Ort wohl ähnlich mit sich kämpfte, um dann über sich hinauszuwachsen?, fragte ich mich. Anscheinend konnte er meine Gedanken lesen. „Kurze Läufe machten mir Spaß, lange nicht“, so seine knappe Antwort, während wir riesige Pfützen umspringen mussten, um einigermaßen trockenen Fußes zum Auto zu gelangen. Überhaupt rührend, wie sich Andi um die drei angehenden österreichischen Sporthoffnungen kümmerte. Da war er wieder, der schon häufig aufgefallene „To care“-Faktor des Rekordnationalspielers – einfach ein Kümmerer. Nacheinander hüpften nun alle drei jungen Sportler kurz hinten in den Kombi hinein und zogen sich zügig um. „Füße gut abtrocknen, Socken wechseln und zu Hause gleich duschen“, lautete der abschließende Marschbefehl vom Chef.
Erstaunlich, wie sich der Fußballsport in vielen Belangen individualisiert hat, wie wichtig es ist, über den Tellerrand zu schauen, und wie sehr man mit all dem wertvollen Know-how über Lauftechnik und Co. die Qualität des Trainings steigern kann, dachte ich mir, während Papa Herzog die Limousine inklusive der drei „Buam“ sicher durch die verregneten Wiener Vororte lenkte. Auf der Rückbank war indes Ruhe eingekehrt – was wohl mit der energetischen Anziehungskraft des Handys zu tun hatte. Aber wer kennt das nicht?
So blieb im Vorderraum des Autos genügend Zeit, wieder in die Vergangenheit abzuschweifen und über eine andere, aber nicht weniger intensive Leistungssteuerung zu plaudern – zurück in die 80er also! Herzog blickte zurück: „Schau, die Voraussetzungen waren einfach ganz anders, es war viel mehr Eigeninitiative gefragt, wollt ich mich verbessern.“
Von der U16 der Grün-Weißen ging es in der Saison 1984/85 weiter in die U18. Auch hier gehörte er wieder zu den jüngsten Kickern und wurde in seinem neuen Team Meister mit dem U18-Team: 6:0 lautete das Endergebnis im Finale gegen Innsbruck. Herzog muss in diesen Tagen eine tragende Rolle im ersten Jahr der U18 eingenommen haben, denn gleich im Anschluss begleitete er die Kampfmannschaft von Rapid ins Trainingslager. Und auch sonst war er in jeder freien Minute auf dem Trainingsgelände in Hütteldorf.
Für mich war es extreme Aufregung, weil ich mit Hans Krankl, Zlatko Kranjčar, also mit meinen extremen Vorbildern, musst dir vorstellen, auf einmal zusammenkam. Ich bin von der Schule immer direkt, also spätestens nach sechs Stunden um 13.15 Uhr nach Hause. Da war spätestens bei mir in der Handelsakademie Schulschluss. Jetzt bin ich heimgefahren, habe meine Aufgaben gemacht, gelernt habe ich leider nicht so viel laut meiner Mutter, sofort zum Training gefahren und hab um halb vier den Profis beim Training zugeschaut. Das geht ja heute gar nicht mehr. (Andreas Herzog)
Es war die große Zeit der grün-weißen Auswahl in den 1980er-Jahren. 1987 und 1988 gewann der SK Rapid Wien die nationale Meisterschaft, in den Jahren 1984, 1985 und 1987 den ÖFB-Cup – nicht zu verschweigen der Einzug in das Finale des Europacups der Pokalsieger 1985, das in Rotterdam im Stadion De Kuip vor 38.500 Zuschauern mit 1:3 gegen den Stadtteilklub aus Liverpool, Everton FC, verloren ging.
Genau in diesen Tagen hatte also der heranwachsende und zumindest in Sachen „Fußballsport“ besonders wissbegierige junge „Bua“ oder besser gesagt Teenager Andi die Möglichkeit, seinen extremen Vorbildern fast täglich ganz nahe zu sein, um von ihnen zu lernen. Da wundert es kaum, dass der heimische Schreibtisch in der Schönbrunner Allee schnell verwaist zurückgelassen wurde. Man lernt eben nur dann besonders gut, wenn es einen auch wirklich interessiert, anzieht.
Ich hab immer erst um 18 Uhr Training gehabt und bin aber jeden Tag schon um halb vier im Stadion gewesen und habe den Profis zugeschaut. Ich wollte nie jemanden kopieren, aber man lernt ja aus jeder Situation. Das war total strange, die Mannschaft hat sich aufgewärmt, aber der Antonín Panenka hat sich a Handballtor ins richtige Tor stellen lassen, hat nur Freistöße geschossen. Das Handballtor war quasi die Mauer. Die anderen haben sich aufgewärmt, und er hat dabei Freistöße geschossen. Die anderen sind gelaufen, und der Torjäger, der Hans Krankl, hat sich Flanken geben lassen und hat volley geschossen. Und der Rest der Mannschaft hat aufgewärmt. Da hab ich mir gedacht: Wie gibt’s denn des, wie kann denn das sein, die müssen da gar nicht mitmachen? Doch das war halt dann schon die Ausnahmestellung von einem Superstar, der Trainer hat es akzeptiert, und die Spieler haben mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zurückgezahlt. (Andreas Herzog)
Читать дальше