Wenn man der Sportwissenschaft Glauben schenken mag, lernen junge Talente besonders dann gut, wenn sie ihre Stars beim Tun beobachten, besser gesagt nicht nur „passiv zuschauen“, sondern sie „intensiv anstarren“. Daniel Coyle, der weltweit Talentschmieden besuchte, spricht in diesem Zusammenhang sogar vom „Windscreen-Effect“: Wir alle haben eine Art Matrix, eine Windschutzscheibe voller Menschen und Vorbilder vor Augen. „Einer der Schlüssel für den Motivationsfunken ist, seine ‚Windschutzscheibe‘ mit aussagekräftigen Bildern seines zukünftigen Ichs zu füllen und sie tagtäglich anzustarren.“ Studien in den USA ergaben, dass selbst eine lose Verbindung zu einem Vorbild unbewusste Motivation beträchtlich steigern, aktives Beobachten sogar zu einem erheblichen Leistungsschub führen kann.
Womit wir wieder bei unserem Protagonisten wären, der so schnell wie möglich aus der Handelsakademie über einen kurzen Mittagstisch- und Hausaufgaben-Abstecher in Meidling schnellstmöglich auf dem Trainingsplatz und in der ersten Reihe saß.
Antonín Panenka, der beste Freistoßschütze in Europa seiner Zeit, der Tscheche, der den Panenka-Elfmeter, den Lupfer, erfunden hat, 1976 gegen die BRD im EM-Finale. Kennst du die Geschichte? Er lauft an, der Torhüter schmeißt sich, und er chippt den Ball seelenruhig. Antonín Panenka, das war der beste Freistoßschütze, Hans Krankl Torjäger , Kranjčar … und ich habe erst immer um 18 Uhr Training gehabt. (Andreas Herzog)
Inspirierend, motivierend, alles brannte sich anscheinend auf der Festplatte des jungen Andreas Herzog tief ein. Die Freistoßspezialisten genauso wie die Torjäger, und vor allem all das, was mit Kreativität und Offensive zu tun hatte. Jedenfalls starrte Herzerl in der damaligen Sturm- und Drangzeit augenscheinlich besonders gut auf die Stars. Wenngleich für ihn immer galt – abgucken ja, kopieren nein. Oder in anderen Worten: Ich zeige den besten Andreas Herzog, den ich in diesem Moment zeigen kann.
Ich wollte jetzt nicht immer irgendwen kopieren, aber man lernt ja aus jeder Situation, abgeschaut habe ich mir auf jeden Fall immer etwas. (Andreas Herzog)
Die folgenden Monate müssen für den jungen Herzog eine hochintensive Zeit gewesen sein, und schon beim bloßen Zuhören fragt man sich, ob heutige Spieler dieser Belastung überhaupt noch gewachsen wären. Natürlich, heutzutage sind die Anforderungen an junge Kicker in Sachen „Umfeldmanagement“ wesentlich höher. Das heißt, schulische Aufgaben und damit verbundener Leistungsdruck fordern spätestens seit der Jahrtausendwende mehr Aufmerksamkeit und vor allem ein hochintensives Zeitmanagement – ein Wort, das es so gesehen in den 1980er-Jahren noch gar nicht gab, genauso wenig wie den Drill an fachlichem Know-how, insbesondere in den hochmodernen Nachwuchsleistungszentren heutiger Bundesligisten.
Besonders drastisch kritisierte dies vor wenigen Jahren Andi Herzogs ehemaliger Mitspieler von Bayern München, Mehmet Scholl, und löste damit eine große Diskussion aus. „Die Kinder dürfen sich nicht mehr im Dribbling probieren“, monierte er. „Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärtslaufen und furzen.“ Von Andi mit einem „Na, da schau her …“ kommentiert. Zu viel Fachtermini, zu einheitliche Denkmuster, zu statisches Einstudieren von Spielsystemen, das sich von ganz oben bis in die unteren Altersklassen der Nachwuchsleistungszentren erstreckt – nur so am Rande erwähnt.
Was für ein eigenverantwortliches Fußballerleben Andreas Herzog doch da als Jugendspieler genießen konnte, zudem er noch das große Glück hatte, nur ein paar Steinwürfe entfernt von Hütteldorf zu wohnen, daher auf keine langen Busfahrten angewiesen war oder auf einen Schlafplatz in der vereinseigenen Akademie mit täglichem Schulanschluss – wie es heute eben gang und gäbe ist.
Stattdessen nahm er mal den Bus, mal die U-Bahn und ab seinem 16. Lebensjahr und in Sommerzeiten am liebsten sein hellblaues Puch Maxi, mit dem farblich passenden Helm – ebenfalls in Hellblau –, um jede freie Minute im Hanappi-Stadion zu nutzen.
Nicht umsonst berichtet Herzog von einem herrlich autonomen Leben zu dieser Zeit als Jungprofi – zumindest was die Nachmittage betraf. Spätestens nach der sechsten Stunde war in der Handelsakademie Schulschluss – und zwei Stunden später beobachtete er seine Idole intensiv. Umso extremer wurde Herzerl aber an den Wochenenden an seine Grenzen geführt.
Mit 17, 18 hatte ich eine Phase, da habe ich in der U21 gespielt. Die haben immer zwei Stunden vor den Profis gespielt. Samstag, 13.30 Uhr war die U21-Meisterschaft, immer der gleiche Gegner wie die Bundesligamannschaft. Da habe ich dann am Anfang bei der U21 gespielt. Nach ein paar Monaten, wie Rapid gemerkt hat, da kommt ein Talent heran, bin ich bei der U21 in der Halbzeit ausgewechselt worden, und dann bin ich gleich danach bei der Profimannschaft auf der Ersatzbank gesessen. Und dann bin ich hin und wieder 15 Minuten eingewechselt worden, oder auch 25 Minuten oder auch gar nicht, je nach Spielstand. Für mich war das schon a Wahnsinn. Am Anfang habe ich mir selbst bei der U21 schwergetan. Ich war erst 17 gegen 20-, 21-Jährige. Nach ein paar Monaten hat das aber ganz gut gepasst, aber dann noch einmal zur Profimannschaft zu kommen auf der Ersatzbank, und da bin ich eingewechselt worden 20 Minuten vor Schluss, es ist 4:1 für Rapid gestanden oder so, und das Tempo war so hoch, es ist hin und her gegangen, und der Schiedsrichter hat abgepfiffen, und ich hab nur gedacht: Zum Glück ist das Spiel aus. (Andreas Herzog)
Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: „Zum Glück ist das Spiel aus“, dachte sich der junge Herzog. Hatte er doch eigentlich keinen größeren Wunsch, als in der Kampfmannschaft zu spielen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und dennoch eigene Spuren zu hinterlassen. Doch andererseits auch völlig nachvollziehbar, verfügte der Nachwuchsprofi doch noch gar nicht über die nötige körperliche Konstitution, noch nicht über das Tempo, das man im Erwachsenenbereich braucht. Fehlervermeidung war die Devise – und Hauptsache durchkommen. Der eigentliche Höhepunkt des Wochenendes sollte jedoch noch einen Tag später kommen.
Das war also am Samstag, und am Sonntag hab ich dann in der U18 gespielt um die Meisterschaft. Kannst dir das vorstellen? Also ich hab in der U21 gespielt, nach anfänglichen kleineren Schwierigkeiten schnell angepasst an körperliche Aspekte, ans Tempo. Die Profis waren natürlich ein Riesenunterschied, da waren maximal 20 Minuten für mich drin, die habe ich genossen, aber auch genossen, wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat, weil das Tempo so hoch war, und am nächsten Tag habe ich dann in der U18 gespielt, und da habe ich die Spiele fast im Alleingang entschieden. (Andreas Herzog)
Herzog schwärmt heute noch von dieser lehrreichen Zeit, mit mehreren Spielen oder zumindest Einsätzen an einem Wochenende, angefangen mit einer Halbzeit für die U21 samstags um 13.30 Uhr, den dann folgenden Minuten am späteren Nachmittag mit den absoluten Stars wie Zlatko Kranjčar, Reinhard Kienast in der Kampfmannschaft – hier hieß die Devise, bloß nicht auffallen, nur durchhalten –, bis hin zum U18-Match am Sonntag, in dem ihm einfach alles aus einer Leichtigkeit heraus gelang.
Der Unterschied, mit Hans Krankl und den anderen Superstars zu spielen, wo du quasi nur mitspielst und schaust, dass du ja keinen Fehler machst in dem Alter, stattdessen einfach dankbar bist, dabei sein zu dürfen, und das Wissen darüber am nächsten Tag, okay, jetzt komme ich von ganz oben runter, ich muss schon der Beste sein, ich muss den Gegner im Alleingang schlagen – das war schon immer mein Anreiz und hat meiner Entwicklung extrem gutgetan. Das war für mich eine fantastische Zeit, wo man jetzt sagt: Na, das wär zu viel, der kann ja nicht da spielen und nicht da, ich habe es gelebt. (Andreas Herzog)
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