Gegensätzliche Extreme
Es hat etwas Paradoxes, dass gerade die Eltern, denen das Kontrollieren ihrer Kinder am wichtigsten ist, letztlich oft am wenigsten Kontrolle über sie haben. Doch das ist noch nicht alles. Viel bedeutender ist die Tatsache, dass dieser machtzentrierte Ansatz nicht nur ineffektiv ist, sondern auch furchtbaren Schaden anrichtet, selbst wenn er zu funktionieren scheint. Wie der verstorbene Thomas Gordon, Begründer des Parent Effectiveness Training, einmal zu mir sagte: „Eine autokratische Umgebung macht die Menschen krank.“
Natürlich werden nicht alle Menschen auf die gleiche Art krank. Psychotherapeuten haben schon lange erkannt, dass eine einzige Ursache zu ganz unterschiedlichen Ergebnismustern führen kann. So setzen manche Menschen, die Zweifel an ihrem eigenen Wert haben, sich ständig selbst herab und verhalten sich unsicher, während andere mit den gleichen Zweifeln arrogant und selbstgefällig wirken, weil sie offenbar versuchen, ihr geringes Selbstwertgefühl durch ihr Auftreten auszugleichen. Diese anscheinend gegensätzlichen Persönlichkeiten können demselben Ursprung entstammen.
Ähnlich verhält es sich bei Kindern, deren Eltern auf absoluter Kontrolle bestehen. Manche dieser Kinder werden übermäßig folgsam, andere übermäßig aufsässig. Betrachten wir beide Reaktionen nacheinander.
Viele Eltern träumen davon, Kinder zu haben, die stets tun, was man ihnen sagt, doch wie ich schon in der Einleitung erläutert habe, ist es eigentlich kein gutes Zeichen, wenn Kinder durch Einschüchterung zum Gehorsam bewegt werden. Bei Erwachsenen machen wir uns über „Ja-Sager“, die immer derselben Meinung sind wie ihr Chef, lustig – wie kommen wir dann auf den Gedanken, „Ja-Sager-Kinder“ wären ideal?
1948 wurde in der Zeitschrift Child Development eine der ersten Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Das Ergebnis der Studie war, dass Kinder im Vorschulalter, deren Eltern starke Kontrolle über sie ausübten, dazu neigten, „ruhig zu sein, sich gut zu benehmen und sich nicht aufzulehnen“. Jedoch interagierten sie nur wenig mit anderen Kindern, und es schien ihnen an Neugier und Originalität zu mangeln. „Autoritäre Kontrolle… führt zu Konformität, jedoch auf Kosten der persönlichen Freiheit“, schloss der Forscher aus seinen Beobachtungen. 13
Über vier Jahrzehnte später erschien in derselben Zeitschrift eine Studie an rund 4100 Jugendlichen. Wieder lautete das Ziel der Studie, das psychische und soziale Wohlergehen dieser Jugendlichen zu untersuchen und dies dazu in Bezug zu setzen, wie sie erzogen wurden. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die autoritäre Eltern hatten, oft ein hohes Maß an „Gehorsam und Übereinstimmung mit den Erwartungen der Erwachsenen“ aufwiesen. Jedoch fügten die Forscher hinzu: „Diese Jugendlichen scheinen einen Preis hinsichtlich ihres Selbstbewusstseins bezahlt zu haben – sowohl, was ihr Selbstvertrauen angeht, als auch im Hinblick darauf, wie sie ihre eigenen sozialen und akademischen Fähig keiten wahrnehmen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Gruppe junger Menschen zum Gehorsam gezwungen wurde.“ 14
Übermäßige Folgsamkeit ist also eine mögliche Folge übermäßiger Kontrolle. Jedoch treibt derselbe Erziehungsstil manche Kinder auch in das andere Extrem – dazu, dass sie sich gegen alles und jedes auflehnen. Ihr Wille, ihr Urteilsvermögen, ihr Bedürfnis, etwas Selbstbestimmung über ihr Leben zu haben, sind unterdrückt worden, und sie können nur dadurch ein Gefühl von Autonomie wiederbekommen, dass sie sich übermäßig viel auflehnen.
Wenn wir Kinder dazu bringen, sich machtlos zu fühlen, weil wir sie zwingen, sich unserem Willen zu unterwerfen, löst das oft heftige Wut aus, und nur weil diese Wut in dem Augenblick nicht zum Ausdruck gebracht werden kann, bedeutet das nicht, dass sie verschwindet. Was mit der Wut geschieht, hängt von der Persönlichkeit des Kindes und den genauen Umständen ab. Manchmal kommt es zu weiteren Gefechten mit den Eltern. Wie die Autorin Nancy Samalin bemerkt: „Selbst wenn wir ‚gewinnen‘, verlieren wir. Wenn wir Kinder durch Gewalt, Drohungen oder Strafen zum Gehorchen bewegen, fühlen sie sich hilflos. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit können sie nicht ausstehen, daher provozieren sie eine weitere Konfrontation, um zu beweisen, dass sie noch eine gewisse Macht haben.“ 15Und von wem lernen sie, diese Macht zu benutzen? Von uns. Ein autoritärer Erziehungsstil macht sie nicht nur wütend, sondern lehrt sie auch, diese Wut gegen andere Menschen zu richten. 16
Es kann passieren, dass solche Kinder ständig das Bedürfnis verspüren, Autoritätsfiguren eine lange Nase zu machen. Manchmal bringen sie die ganze Feindseligkeit mit in die Schule oder auf den Spielplatz. (Studien lassen darauf schließen, dass Kinder stark kontrollierender Eltern – sogar Kinder, die erst drei Jahre alt sind – besonders dazu neigen, sich Gleichaltrigen gegenüber störend und aggressiv zu verhalten, woraufhin diese vielleicht nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen. 17Natürlich ist eine solche erzwungene Isolation nicht gut für ihre Entwicklung.)
Es kommt auch vor, dass ein Kind Angst hat, sich offen aufzulehnen, jedoch einen Weg findet, es hinter dem Rücken seiner Eltern zu tun. Ein autoritärer Erziehungsstil kann dazu führen, dass die Kinder sich so gut benehmen, dass die ganze Nachbarschaft die Eltern darum beneidet. Doch oft haben diese Kinder nur gelernt, ihr Fehlverhalten, das bisweilen erschreckend bösartig sein kann, besser zu verbergen. Nach außen hin scheinen sie perfekt zu sein, doch in Wirklichkeit führen sie ein „Doppelleben“, wie ein Therapeut es formuliert hat: „Die Kontrolle der Erwachsenen und ihre Machtausübung (machten es) nötig, eine Art Doppelleben zu etablieren – eines, zu dem die Eltern zugelassen waren, und eines, von dem sie möglichst nichts wissen sollten.“ 18Solche Kinder können ein erhöhtes Risiko haben, diverse psychische Störungen zu entwickeln. Auch können sie große Angst vor den Menschen entwickeln, die sie so behandelt haben, und sich dauerhaft von ihnen entfremden. Ähnlich wie eine an Bedingungen geknüpfte Liebe kann eine starke Kontrolle manchmal auf kurze Sicht zu Erfolgen führen, jedoch um den Preis, dass unsere Beziehung zu unseren Kindern im Lauf der Zeit schwer geschädigt wird.
Eine Mutter berichtete in einem Online-Diskussionsforum von einem verblüffenden Erlebnis. Sie erzählte, wie sie die Weihnachtsfeiertage einmal bei den Verwandten ihres Mannes verbracht habe, die mit strenger Disziplin erzogen worden waren und ihre Kinder nun ebenso erzogen. Während der Feiertage erzählten sie Geschichten über ihre diversen Jugendstreiche. „Diese wohlerzogenen, regelmäßig disziplinierten, höflichen Kinder verwandelten sich jedes Mal, wenn ihre Eltern ihnen den Rücken zuwandten, in wilde Rowdys“, berichtete sie. „Sie taten Dinge, die mir nie eingefallen wären.“ Auf ihrer Seite der Familie habe es dagegen „nie einen Verhaltensplan gegeben, ein Bonus- oder Bestrafungssystem, Stubenarrest, eine Tracht Prügel oder ein Wegnehmen von Vergnügungen“. Und ebenso wenig, beteuert sie, habe es ernsthaftes Fehlverhalten gegeben.
Damit will ich nicht sagen, man müsse sich immer gleich Sorgen machen, wenn ein Kind sich auflehnt. Ein gewisses Maß an Nein-Sagen ist völlig normal und gesund, vor allem im Alter von etwa zwei oder drei Jahren und dann wieder im frühen Teenageralter. Vielmehr meine ich hier ein übertriebenes, reaktives Sich-Auflehnen, das länger andauert und tiefer geht. Solche Kinder sind der lebende Beweis dafür, dass ein Erziehungsstil, der vor allem Gehorsam zum Ziel hat, oft sogar nach seinen eigenen Maßstäben versagt, ganz abgesehen davon, dass er eine Menge weiterer Probleme schafft.
Was ist die Alternative dazu, übermäßig folgsam zu sein oder sich übermäßig viel aufzulehnen? Was kennzeichnet solche Kinder? Wenn sie von ihren Eltern – und später auch von anderen Leuten – um etwas gebeten werden, sagen sie manchmal ja und manchmal nein und fühlen sich weder gezwungen, die Bitte zu befolgen, noch sich dagegen aufzulehnen. Oft tun sie das, worum man sie bittet, vor allem wenn sie den Eindruck haben, dass es vernünftig oder demjenigen, der die Bitte äußert, sehr wichtig ist. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind dies die Kinder von Eltern, die eine gute Vertrauensgrundlage aufgebaut haben, indem sie sie mit Respekt behandeln, ihre Bitten begründen und unrealistische Erwartungen an den Gehorsam der Kinder vermeiden. Solche Eltern haben sich mit der Tatsache angefreundet, dass ihre Kinder sich behaupten, indem sie sich ab und zu auflehnen, und sie überreagieren nicht, wenn dies geschieht.
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