• An einem Wassertisch im Kindermuseum versuchte eine Mutter, ihren kleinen Sohn an allem Möglichen zu hindern, indem sie fälschlich behauptete, in dem Museum aufgestellte Schilder verböten genau das, was er gerade vorhatte – zum Beispiel: „Auf dem Schild steht, dass man nicht spritzen darf.“ Als er fragte warum, antwortete sie: „Es steht eben drauf.“
Schon bald gab ich es wieder auf, mir Notizen zu machen. Abgesehen von der schieren Menge dieser Vorfälle, glichen sie sich untereinander auch ziemlich und es schien mir bald überflüssig und deprimierend zu sein, sie festzuhalten. Immer wieder erlebten wir, wie Eltern auf dem Spielplatz unvermittelt verkündeten, es sei Zeit zu gehen, und manchmal sogar ihr Kind am Arm packten. (Wenn es daraufhin weinte, wurde das gewöhnlich darauf zurückgeführt, dass es „müde“ sei.) Wir sahen Eltern, die unwissentlich einen Feldwebel imitierten, der seine Truppen einschüchtert – Nase an Nase, wobei sie ihren Finger nur Zentimeter vor dem Gesicht des Kindes in die Luft stießen und brüllten. Und wie oft hatten wir in Restaurants beobachtet, wie Eltern an ihren Kindern herumfuhrwerkten – ihre Manieren korrigierten, sie wegen ihrer Haltung zurechtwiesen, Bemerkungen darüber machten, was (und wie viel) sie aßen, und ganz allgemein das Essen zu etwas machten, von dem die Kinder so schnell wie möglich flüchten wollten. (Kein Wunder, dass so viele Kinder bei Mahlzeiten mit der Familie keinen Hunger haben, jedoch kurze Zeit später Appetit bekommen.)
Lassen Sie mich Ihnen versichern: Bevor ich eigene Kinder hatte, habe ich viel härter geurteilt. Solange man nicht selbst einen Kinderwagen geschoben hat, begreift man nicht wirklich, wie so winzige Menschen es schaffen können, einen auf die Palme und ans Ende seiner Geduld zu bringen. (Natürlich kann man dann auch nicht die Augenblicke übernatürlichen Glücks, die sie einem bescheren können, genießen.) Das versuche ich im Hinterkopf zu behalten, wenn mich das Verhalten anderer Eltern zusammenzucken lässt. Und ich sage mir, dass ich die Geschichte der Familie, die ich nur ein paar Minuten beobachtet habe, ja nicht kenne – dass ich nicht weiß, was die Mutter oder der Vater an dem Morgen vielleicht erlebt hat und was das Kind gerade getan hat, bevor ich zufällig auf dem Schauplatz erschien.
Dennoch. Trotz allem, was wir vielleicht berücksichtigen sollten, und aller Umstände, die wir bedenken sollten, ist eine Beobachtung festzuhalten: Für jedes Kind, das in der Öffentlichkeit unbeaufsichtigt herumrennt, gibt es Hunderte von Kindern, die von ihren Eltern unnötig eingeschränkt, angeschrieen, bedroht oder schikaniert werden, Kinder, deren Protest routinemäßig ignoriert und deren Fragen abgetan werden, Kinder, die sich daran gewöhnt haben, auf ihre Bitten ein automatisches „Nein!“ zu hören und ein „Weil ich es gesagt habe!“, wenn sie nach einem Grund fragen.
Sie brauchen mir das nicht einfach so zu glauben. Tun Sie so, als wären sie Anthropologe, und beobachten Sie genau, was vor sich geht, wenn Sie das nächste Mal auf einem Spielplatz, in einem Einkaufszentrum oder auf einer Geburtstagsparty sind. Sie werden nichts sehen, was Sie noch nie gesehen haben, aber vielleicht bemerken Sie Einzelheiten, auf die Sie bisher kaum geachtet hatten. Vielleicht bieten sich einige Verallgemeinerungen über das, was sie miterleben, an. Doch seien Sie gewarnt: Es ist nicht immer angenehm, für das, was um einen herum vorgeht, sensibilisiert zu werden. Wenn Sie zu genau hinschauen, ist ein Tag im Park plötzlich kein Tag im Park mehr. Eine Mutter aus Kalifornien schrieb mir:
Waren Sie in letzter Zeit mal im Supermarkt? Es ist schlimmer denn je geworden! Zu sehen, wie Eltern Bestechungen, Demütigungen, Strafen, Belohnungen und allgemein beleidigende Taktiken einsetzen, ist fast unerträglich. Was ist nur aus meiner schönen rosaroten Brille geworden? Jedes „Wenn du dich nicht beruhigst, gehen wir nie mehr einkaufen!“ und „Wenn du aufhörst zu schreien, gehen wir ein Eis essen, Schatz!“ droht mich zu ersticken. Wie habe ich es früher nur geschafft, das auszublenden?
Denken Sie noch einmal über die in den letzten beiden Kapiteln beschriebenen Methoden eines an Bedingungen geknüpften Erziehungsstils nach. Ein Grund, weshalb sie so schädlich sind, hat damit zu tun, dass das Kind die Erfahrung macht, von außen gesteuert zu werden. Anders herum läuft es ähnlich: Wenn wir Strafen, Belohnungen und andere Strategien zur Manipulation kindlichen Verhaltens einsetzen, bekommt das Kind vielleicht den Eindruck, es werde nur geliebt, wenn es unseren Anforderungen entspricht. Ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsstil kann die Folge zu starker Kontrolle sein, selbst wenn er nicht beabsichtigt war, und umgekehrt kann Kontrolle die destruktiven Auswirkungen erklären helfen.
Doch übermäßige Kontrolle ist schon an sich ein Problem und verdient ein eigenes Kapitel. Sie ist nicht auf eine bestimmte Form der Disziplinierung beschränkt, auf eine Auszeit oder eine Tabelle mit Sternchen, eine Tracht Prügel oder ein „gut gemacht“, ein gewährtes oder entzogenes Vergnügen. Eine Methode durch eine andere zu ersetzen bewirkt nicht viel, wenn wir uns nicht mit der folgenden grundlegenden Tatsache auseinandersetzen: Das verbreitetste Erziehungsproblem in unserer Gesellschaft ist nicht zu große Toleranz, sondern die Angst vor zu großer Toleranz. Wir fürchten uns so davor, Kinder zu verwöhnen, dass wir sie im Endeffekt oft übertrieben kontrollieren.
Zugegeben, manche Kinder werden verwöhnt – und manche werden vernachlässigt. Doch worüber im Allgemeinen viel seltener diskutiert wird, ist die Epidemie, Kinder bis ins Kleinste hinein zu managen, so zu tun, als seien sie Ableger von uns, die uns gehörten. Daher lautet eine wichtige Frage, auf die ich später zurückkommen werde, wie wir Orientierung bieten und Grenzen setzen können (was beides nötig ist), ohne es mit der Kontrolle zu übertreiben. Zunächst jedoch müssen wir uns darüber klar werden, inwieweit wir es vielleicht tatsächlich übertreiben und warum das eine Versuchung ist, der wir widerstehen sollten.
Die Art, wie mit vielen Kindern umgegangen wird, zeugt von mangelndem Respekt für ihre Bedürfnisse und Vorlieben – ja, von einem mangelnden Respekt für Kinder, Punkt. Viele Eltern verhalten sich so, als glaubten sie, dass Kinder gar keinen Respekt wie den, den man Erwachsenen entgegenbringt, verdienten. Vor vielen Jahren forderte uns der Psychologe Haim Ginott auf, einmal darüber nachzudenken, wie wir reagieren würden, wenn unser Kind versehentlich etwas liegen gelassen hätte, was ihm gehörte – und es damit zu vergleichen, wie wir reagieren würden, wenn ein chronisch vergesslicher Freund von uns dasselbe täte. Kaum jemand käme auf den Gedanken, einen anderen Erwachsenen in dem Ton auszuschimpfen, der gegenüber Kindern an der Tagesordnung ist: „Was ist nur los mit dir? Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nachsehen sollst, ob du alles hast, bevor du gehst? Meinst du, ich hätte nichts Besseres zu tun als .“ und so weiter. Zu einem Erwachsenen würden wir wahrscheinlich einfach nur sagen: „Hier ist dein Schirm.“ 1
Manche Eltern greifen aus reiner Gewohnheit ein und bellen: „Hör auf zu rennen!“, auch wenn kaum ein Risiko besteht, sich oder andere zu verletzen oder etwas zu beschädigen. Manche erwecken den Eindruck, als versuchten sie, ihrem Kind seine eigene Machtlosigkeit unter die Nase zu reiben und ihm zu zeigen, wer der Boss ist: „Weil ich die Mama bin, deshalb!“ „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst.“ Manche versuchen, durch körperliche Gewalt Kontrolle über Kinder auszuüben, während andere Schuldgefühle einsetzen („Nach allem, was ich für dich getan habe! Du brichst mir das Herz.“). Manche Eltern meckern ständig an ihren Kindern herum, ermahnen und kritisieren sie permanent. Andere lassen sich gar nicht anmerken, dass sie gegen das, was ihre Kinder tun, etwas haben, bis sie anscheinend aus dem Nichts heraus explodieren; eine unsichtbare Grenze – die vielleicht mehr mit der Stimmung des Erwachsenen als mit dem Verhalten des Kindes zu tun hat – ist überschritten worden, und plötzlich wird die Mutter oder der Vater erschreckend wütend und wendet Zwang an.
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