Alfie Kohn
Liebe und Eigenständigkeit
Alfie Kohn
Liebe und Eigenständigkeit
Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung
Aus dem amerikanischen Englisch von Cordula Kolarik
© 2005 Alfie Kohn
© 2010 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
Unconditionalparenting: moving from rewards andpunishments to love and reason
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2019
Titelfoto: © 2010 Svea Anais Perrine / photocase.com
Lektorat: Richard Reschika
Gestaltung: Anke Brodersen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-271-9
Wichtiger Hinweis:
Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Sie brauchen psychotherapeutische Hilfe, wenn Sie sich durch die Übungen von Emotionen und Erinnerungen überwältigt fühlen. Bei ernsthafteren und/oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt oder einen Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung des Autors und des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Inhalt
Einleitung
1 Wenn Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist
2 Liebe schenken und Liebe entziehen
3 Zu viel Kontrolle
4 Strafen sind schädlich
5 Zum Erfolg gedrängt
6 Was hindert uns daran, bessere Eltern zu sein?
7 Grundsätze bedingungsloser Elternliebe
8 Liebe ohne Wenn und Aber
9 Mitspracherecht für Kinder
10 Die Sicht des Kindes
Anhang: Erziehungsstile
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Danksagung
Ein wenig Menschlichkeit ist viel mehr wert als alle Vorschriften der Welt.
Jean Piaget
Einleitung
Schon bevor ich Kinder hatte, wusste ich, dass es nicht nur eine Freude, sondern auch eine Herausforderung sein würde, Eltern zu sein. Aber ich wusste es nicht wirklich.
Ich wusste nicht, wie erschöpft oder ratlos man sich fühlen konnte und wie ich jedes Mal, wenn mir alles über den Kopf wuchs, irgendwie doch weitermachen musste.
Ich begriff nicht, dass Kinder manchmal deshalb so laut schreien, dass die Nachbarn kurz davor sind, das Jugendamt zu rufen, weil man die falsche Sorte Nudeln zum Abendessen gekocht hat.
Mir war nicht klar, dass sich die Atemübungen, die Frauen bei Kursen zum Thema natürliche Geburt lernen, erst dann wirklich auszahlen, wenn das Kind schon lange auf der Welt ist.
Nie hätte ich voraussehen können, wie erleichtert ich sein würde, zu hören, dass die Kinder anderer Leute mit den gleichen Dingen zu kämpfen haben und sich manchmal ähnlich verhalten wie meine. (Noch befreiender ist die Erkenntnis, dass auch andere Eltern dunkle Momente haben, in denen sie merken, dass sie ihr eigenes Kind nicht mögen, oder sich fragen, ob es das alles wert ist, oder diverse andere unaussprechliche Gedanken hegen.)
Fazit: Kinder großzuziehen ist nichts für Schwächlinge. Meine Frau sagt, es sei ein Test der Fähigkeit, mit Unordnung und Unberechenbarkeit umzugehen – ein Test, für den man nicht üben kann und dessen Ergebnisse nicht immer beruhigend ausfallen. Vergessen Sie „Raketentechnik“ oder „Gehirnchirurgie“: Wenn wir betonen wollen, etwas sei eigentlich nicht so furchtbar schwer, sollten wir sagen: „Hey, es ist ja nicht so schwer wie Kinder großzuziehen …“
Eben weil es so schwierig ist, sind wir vielleicht versucht, unsere Energie darauf zu konzentrieren, den Widerstand unserer Kinder gegenüber unseren Wünschen zu durchbrechen und sie zu bewegen, das zu tun, was wir ihnen sagen. Wenn wir nicht aufpassen, kann das unser Hauptziel werden. Es kann passieren, dass wir uns all den Leuten um uns herum anschließen, die Fügsamkeit und kurzfristigen Gehorsam bei Kindern über alles schätzen.
Vor ein paar Jahren saß ich während einer Vortragsreise in einem Flugzeug, das gerade gelandet war und zum Flugsteig rollte. Sobald ein Ton signalisierte, dass wir aufstehen und unser Handgepäck herunterholen durften, beugte sich einer meiner Sitznachbarn in die Reihe vor uns und beglückwünschte die Eltern eines kleinen Jungen, der dort saß. „Er war auf dem Flug so ein guter Junge!“, erklärte er.
Denken Sie einen Augenblick lang über das Schlüsselwort in dem Satz nach. Gut ist ein Adjektiv voller moralischer Bedeutungen. Es kann ein Synonym für ethisch oder ehrenwert oder mitfühlend sein. Doch wenn man von Kindern spricht, heißt das Wort oft nichts weiter als ruhig – oder vielleicht keine Nervensäge. Als ich diese Bemerkung im Flugzeug hörte, machte es bei mir klick. Mir wurde klar, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sich genau das am meisten von Kindern wünschen: nicht, dass sie fürsorglich, kreativ oder neugierig sind, sondern einfach dass sie sich gut benehmen. Ein „gutes“ Kind – vom Säugling bis zum Jugendlichen – ist eines, das uns Erwachsene nicht allzu sehr stört.
Es mag sein, dass sich die Strategien, dieses Ergebnis zu erreichen, im Lauf der letzten paar Generationen geändert haben. Während Kinder einst harten körperlichen Bestrafungen unterworfen waren, werden sie jetzt vielleicht zu Auszeiten verurteilt oder bekommen Belohnungen, wenn sie uns gehorchen. Doch verwechseln Sie neue Mittel nicht mit neuen Zielen. Das Ziel ist noch immer Kontrolle, auch wenn wir diese mit moderneren Methoden sicherstellen. Der Grund dafür ist nicht der, dass uns unsere Kinder nicht am Herzen lägen. Es hat mehr damit zu tun, dass uns der ständige alltägliche Druck des Familienlebens überwältigt. Die Notwendigkeit, die Kinder ins Bett oder Auto, in die Badewanne und wieder heraus zu bekommen, macht es uns schwer, einen Schritt zurückzutreten und zu sehen, was wir eigentlich tun.
Wenn es uns nur darum geht, Kinder dazu zu bewegen, zu tun, was wir sagen, ist das unter anderem deshalb problematisch, weil es möglicherweise im Widerspruch zu anderen, höher gesteckten Zielen, die wir für sie haben, steht. Heute Nachmittag geht es Ihnen vielleicht nur darum, dass Ihr Sohn damit aufhört, im Supermarkt einen Aufstand zu machen, und sich damit abfindet, dass Sie ihm keine große, bunte Tüte Süßigkeiten, die als Frühstücksflocken getarnt sind, kaufen werden. Aber es lohnt sich, etwas weiter zu blicken. In den Workshops, die ich für Eltern leite, beginne ich gern mit der Frage: „Was sind Ihre langfristigen Ziele für Ihre Kinder? Welches Wort oder welcher Ausdruck kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie beschreiben möchten, wie Sie sich Ihre Kinder wünschen würden, wenn sie erwachsen sind?“
Denken Sie einen Moment darüber nach, wie Sie diese Frage beantworten würden. Wenn ich Elterngruppen auffordere, die wichtigsten langfristigen Ziele zu nennen, die sie für ihre Kinder haben, bekomme ich landesweit bemerkenswert ähnliche Antworten zu hören. Die Liste, die von einer Gruppe erstellt wurde, war typisch: Die Eltern sagten, sie wünschten sich, dass ihre Kinder glückliche, ausgeglichene, selbstständige, ausgefüllte, produktive, selbstbewusste, seelisch gesunde, freundliche, rücksichtsvolle, verantwortungsbewusste, liebevolle, wissbegierige und zuversichtliche Menschen würden.
Was an dieser Liste von Adjektiven interessant ist – und was daran nützlich ist, überhaupt über diese Frage nachzudenken –, ist, dass sie uns dazu anregt, uns zu fragen, ob das, was wir tun, mit dem im Einklang steht, was wir wirklich wollen. Helfen meine alltäglichen Erziehungsmethoden wohl meinem Kind, zu dem Menschen heranzuwachsen, den ich mir wünschen würde? Trägt das, was ich gerade im Supermarkt zu meinem Kind gesagt habe, wenigstens ein bisschen dazu bei, dass es ein glücklicher, ausgeglichener, selbstständiger, ausgefüllter und so weiter Mensch werden kann – oder ist es möglich (schluck), dass die Art, wie ich mit solchen Situationen umgehe, ein solches Ergebnis weniger wahrscheinlich macht? Falls ja, was sollte ich stattdessen tun?
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