„Okay, liebe Anastasia. Das ist dein Moment, zeig dich in deiner alten Pracht, beim rotschwänzigen Hippocampus!“, ruft Leonie. Blitzschnell löst sie die Knoten, mit der die Plane am Boot befestigt ist, und wirft das riesige Ding mit einem Schwung auf den Boden. Ilvie und Theo staunen, wie geschickt und flink Leonie ist, fast wie eine Zirkusartistin.
„Uachch chch chch!“, hustet Theo. Die Plane hat das halbe Bootshaus in eine riesige dicke Staubwolke gehüllt. ‚Puh, ich ersticke gleich!‘, funkelt er laut keuchend. ‚Ilvie, IIlviiie, wo bist du! Ich kann dich nicht mehr sehen! Hier ist alles voller Nebel! Ilvie! Hilfe!‘
‚Theo, ich bin hier, keine Sorge!‘, funkelt Ilvie zurück. „Diese Plane ist wohl schon länger nicht mehr bewegt worden!“, sagt sie japsend.
„Seid ihr okay da unten?“, ruft Leonie von der Leiter herunter. „Ich kann euch nicht sehen! Alles gut bei euch?“
„Ja ja!“, ruft Ilvie hustend und wedelt mit ihren Händen vor ihrem Gesicht herum. „Ist nur ein bisschen sehr staubig hier!“
Als sich der Staub ein wenig gelegt hat und Ilvie die Leiter wieder sehen kann, klettert sie schnell ihrer Freundin Leonie nach. Die steht schon oben an Deck und sieht sich um.
„Wow, ohne diese Plane habe ich die Anastasia schon lange nicht mehr gesehen!“, murmelt Leonie versonnen.

„Ist die schön!“, ruft Ilvie, als sie das obere Ende der Leiter erreicht hat.
‚Hey und was ist mit mir? Hä? Mich lasst ihr jetzt einfach hier unten versauern? Das ist total affengemein von euch!‘, vernimmt sie da ein ärgerliches Funkeln.
„Oh Theo …“, murmelt Ilvie leise. „Mein kleiner Affenfreund hat nämlich ein bisschen Höhenangst!“, flüstert sie ihrer neuen Freundin augenzwinkernd zu. „Ich komme schon und hole dich!“, ruft sie dann laut, klettert hinunter, schnappt den kleinen Affen, der sich an sein kostbares Wanderbeutelchen klammert, und steigt mit ihm wieder die Leiter hinauf.
‚Uaahaaa … ist das hohooch!‘, funkelt Theo ängstlich, während er schnell beide Augen fest zukneift. ‚Gehören Boote nicht eigentlich ins Wasser? Das ist ja vieeel zu hoch!‘
Als die beiden oben ankommen, ist Leonie verschwunden.
„Leonie!“, ruft Ilvie besorgt. „Leonie, wo bist du?“
„Ich bin hier unten!“, klingt es dumpf aus dem Schiffsbauch. „Ihr braucht nur durch die Kajütentür zu gehen und die Treppe runterzuklettern! Ich bin hier!“
‚Uah, da ist es dunkel und staubig, da geh ich sicher nicht hinein!‘, funkelt Theo empört. ‚Brrr!‘
‚Na komm schon, Theo, ich halte deine Hand!‘, funkelt Ilvie und ist schon die Hälfte der Treppe hinuntergeklettert.
„Wow! Ist das cool hier!“, ruft sie staunend, als sie am Ende der Treppe angelangt ist und sich im Inneren des Bootes umsehen kann. Durch die schmutzstarrenden Bullaugen an den Seiten kommt zwar nur stumpfes Licht herein, der alte Holzboden, die Möbel und selbst die Wände sind von einer dicken Staubschicht überzogen, doch man kann deutlich sehen, dass die Anastasia ein wunderschönes, kostbares altes Holzschiff ist.
„Komm, schau mal!“, hört Ilvie eine Stimme aus dem Halbdunkel. Langsam tastet sie sich vor.
„Wo bist du? Ich sehe dich nicht!“, ruft Ilvie, während sie vorsichtig weitergeht.
„Hier!“, ruft es plötzlich neben ihr.
„Hui, hast du mich erschreckt!“
Die Stimme neben Ilvie kichert. „Entschuldige, das wollte ich nicht! Sieh mal, das war die Bibliothek! Hier sind noch alle Bücher über Schifffahrt und Navigation … und viele Seekarten – es sieht so aus, als wäre meine Urgroßmutter gerade noch hier gewesen!“
„Was da alles herumsteht! Das ist ja fantastisch!“, sagt Ilvie beeindruckt.
‚Haalloooo!‘, funkelt Theo, der sich – am ganzen Körper zitternd – nun doch in den Schiffsbauch gewagt hat. Draußen allein herumzustehen, in dieser Höhe, erscheint ihm dann doch gefährlicher, als den Mädchen zu folgen. So würden sie wenigstens gemeinsam sterben, wenn es schon sein musste. Der kleine Affe hat vor lauter Angst sogar sein kostbares Wanderbeutelchen an Deck vergessen. ‚Ilvie?‘
‚Komm, Theo, sieh dir mal an, was hier alles ist!‘, funkelt Ilvie begeistert.
‚A– … aber … wo seid ihr denn?‘, funkelt Theo zur Antwort. ‚Meine kleinen Affenaugen sehen genau überhaupgarnichts!‘
„Ha! Beim rotgrün getupften Taeniura Lymma!“, ruft Leonie. „Da ist die alte Schiffslampe von Urgroßmutter! Wartet kurz! Irgendwo müssen da doch auch noch Streichhölzer sein …“, murmelt sie und beginnt ein paar Schubladen aufzuziehen. „Tataaa!“, macht Leonie stolz und entzündet die Schiffslampe.
„Oh! Das ist ja wunderschön!“, sagt Ilvie bewundernd, als die Bibliothek im sanften Schein der Schiffslampe aufleuchtet.
Theo, der dem Licht gefolgt ist, lugt vorsichtig um die Ecke. ‚Puh, diese Abenteuer sind wirklich ganz schön stressig!‘, funkelt der kleine Affe, wischt sich kurz über die Stirn und klettert vorsichtig auf den großen Tisch, auf dem viele verschiedene Seekarten liegen.
„Leonie, wir müssen die Schatzkarte finden und mit der Anastasia in See stechen!“, sagt Ilvie bestimmt. „Gibt es denn keinen Hinweis, wo diese Karte sein könnte?“
„Hm … na ja …“, meint Leonie nachdenklich. „Es haben natürlich schon viele Menschen versucht, diese alte Karte zu finden … aber bisher hatte niemand Erfolg. Die Schatzkarte ist verschollen …“
Leonie macht eine kurze Pause und fährt dann fort: „Aber mir fällt gerade etwas ein: Vor ein paar Jahren hat mich eine sehr alte Frau im Ort angesprochen. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Sie hat mich gefragt, ob ich zufällig mit Grace, der unerschrockenen Seefahrerin, verwandt wäre. Ich habe gesagt: ‚Ja, das ist meine Urgroßmutter!‘ Dann hat die alte Frau gelächelt und langsam den Kopf geschüttelt. ‚Wusste ich es doch. Du siehst genauso aus wie die schöne Grace!‘, hat sie gemeint.“
Leonie sieht versonnen vor sich hin und erzählt nach einer kleinen Pause weiter: „Und dann hat die alte Frau etwas ganz Eigenartiges gesagt, etwas, das mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Ich kann mich noch ganz genau an ihre Worte erinnern: ‚Damals, als Grace zu ihrer letzten Fahrt aufgebrochen ist, war ich sehr krank und konnte nicht mitfahren. Das hat mir das Leben gerettet – sonst wäre ich mit der ganzen Mannschaft in die Falle gelockt worden und mit ihnen allen gestorben. Ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen deswegen. Aber deine Urgroßmutter sagte mir kurz vor ihrer Abfahrt: ‚Julie, sollte ich irgendwann nicht wieder zurückkommen, vergiss nie: Das Geheimnis ist zu sehen in den Bildern der Vergangenheit!‘ – Ich habe nie verstanden, was Grace damit gemeint hat … aber sie hat wohl geahnt, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Ich bin sehr froh, dass ich dich jetzt treffe. Ich bin schon sehr alt und niemand weiß, wie lange ich noch lebe. Ich konnte das Rätsel nie lösen … – aber vielleicht kannst du es ja, junges Mädchen!‘ Dann hat mich die alte Frau kurz umarmt und war plötzlich verschwunden. Und seitdem rätsle ich darüber, was ihre Worte wohl bedeutet haben … und ob sie wirklich etwas mit der Schatzkarte zu tun haben könnten …“
‚Haha, was ist das denn Komisches?‘, funkelt Theo, der sich langsam von seinem Schrecken erholt hat und beginnt, sich ein bisschen umzusehen. Neugierig öffnet er eine Holzkiste, in dem ein eigenartig aussehendes Ding liegt. Mit einem Fernrohr dran. Langsam zieht er das glänzende Ding aus der Kiste und versucht, durch das Fernrohr zu schauen. ‚Ich seh überhauptgarnix!‘, funkelt er empört. ‚Damit müsste ich ja eigentlich noch viel besser sehen können, tu ich aber nicht. So ein blödes Ding!‘
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