DAS MÄDCHEN AUF DER SCHAUKEL
Puh, jetzt sind wir aber schon wirklich sehr lange und sehr weit gegangen!‘, funkelt der kleine Affe Theo. ‚Wann kommen wir denn jetzt bitte endlich mal irgendwo an? Mir kommt vor, wir gehen schon seit Stunden und Tagen und Wochen auf dieser Klippe, haben überhauptgarniemanden getroffen und mein Magen knurrt schon ganz fürchterlich!‘
Ilvie seufzt. Typisch Theo. Seit sie sich vor ein paar Stunden am Tor von den anderen Elfen verabschiedet haben, hat ihr kleiner Freund jede Gelegenheit genutzt, um sich zu beschweren.
‚Schau dich mal um, Theo! Schau, wie schön es hier ist!‘, funkelt Ilvie zurück. ‚Komm, wir suchen einen gemütlichen Platz für eine Rast und dann kannst du einen Erdbeer-Cupcake aus deinem Wanderbeutel verdrücken!‘ Der kleine Affe wirkt nicht sehr überzeugt.
„Hey, sieh mal da vorn, was ist das? Da steht so etwas wie eine Schaukel! Und da sitzt jemand drin! Komm, wir sagen mal Hallo!“, ruft Ilvie.
Mitten auf der Wiese hinter den Klippen steht eine weiße Schaukelbank, auf der ein kleines Mädchen sitzt und hin und her wippt. Eine große Schachtel steht neben ihm, aus der es immer wieder ein Blatt Papier nimmt und es sich genau ansieht. Plötzlich fängt das Mädchen an zu fluchen: „Beim grasgrünen einbeinigen Amphiprion!“ Es klingt so fürchterlich, dass Ilvie sich fast die Ohren zuhalten möchte.
„Hallo du!“, ruft Ilvie, als das Mädchen aufgehört hat zu fluchen.
Schnell schnappt Theo Ilvies Hand – diese Menschen sind ihm irgendwie nicht ganz geheuer. Man weiß nie, was denen alles einfällt.
Das Mädchen blickt auf und sieht Ilvie und Theo durch ihre dicken Brillengläser misstrauisch an. Jetzt erst bemerkt Ilvie, dass das kleine Mädchen über einem Auge ein dickes Pflaster trägt. „Hallo!“ sagt das Mädchen und beginnt zu strahlen, als sie Theo sieht. „Beim fußverknopften Coleoid! Du bist aber ein süßer kleiner Affe!“
‚Süß, süß …‘, funkelt Theo grummelnd. ‚Ich bin überhauptgarnicht süß, süß ist eine Beleidigung, du komisches kleines Menschenkind!‘
Manchmal ist es wirklich gut, dass die meisten Menschen Theos Funkeln nicht verstehen, denkt Ilvie.
„Ich bin Leonie“, sagt das Mädchen. „Und wie heißt ihr?“
„Ich heiße Ilvie und das hier ist mein Freund Theo!“, sagt Ilvie und tätschelt dem kleinen Affen, der sich höflich vor Leonie verbeugt, das Haarbüschel auf seinem Kopf. „Wir wollten gerade eine Rast machen. Dürfen wir uns zu dir setzen?“
„Ja, sehr gerne! Ich freue mich, euch kennenzulernen!“, ruft Leonie, während sie die Blätter wieder in die Kiste räumt und diese dann auf den Boden stellt, um ihren neuen Freunden Platz auf der Schaukel zu machen.
Vorsichtig versucht Theo, den Sitz der Schaukelbank zu erklimmen. ‚Uaaah, das Ding bewegt sich ja!‘, funkelt er empört. ‚Was ist denn das für ein komischer Sitz in diesem seltsamen Menschenland! Da kann ja kein normaler Affe hinaufklettern!‘
Ilvie und Leonie kichern. Es sieht einfach zu komisch aus, wie der kleine Affe erfolglos versucht, die Bank zu erklimmen.
„Und schwupp!“, ruft Ilvie dann, schnappt sich Theo und setzt ihn auf die Bank.
‚Schon viel besser. Schon sehr viel besser …‘, funkelt Theo, immer noch ein bisschen grummelig, vor sich hin. ‚Und gleich wird es noch viel besser … gut, dass ich daran gedacht habe, ein bisschen Proviant mitzunehmen!‘ Er macht seinen kleinen Wanderbeutel auf und schnappt sich einen Erdbeer-Cupcake. Genüsslich nimmt er einen großen Bissen und sieht die beiden Mädchen an.
Dann kommt ihm ein Gedanke. Mampfend greift er wieder in seinen Wanderbeutel und holt zwei weitere Cupcakes heraus. Die Mädchen sollen auch etwas davon abbekommen, er ist ja schließlich ein höflicher kleiner Affe.
„Mmh, der sieht aber gut aus! Danke, Theo!“, freut sich Leonie.


Ilvie sieht sich um. Bis jetzt gefällt es ihr sehr gut im Menschenland. Ihr Blick fällt auf die Schachtel, die neben der Schaukel steht.
„Das sind alte Fotos von meiner Urgroßmutter“, erklärt Leonie, die Ilvies Blick bemerkt hat. „Mein Volk ist ein Seefahrervolk … wir fahren alle schon ganz früh, manche schon als Kinder, auf See … Und meine Urgroßmutter Grace war eine sehr, sehr berühmte Seefahrerin und Piratin! Und manchmal, wenn mich die Sehnsucht nach dem Meer packt, schleppe ich die Kiste hierher und schaue mir ihre alten Fotos an.“
„Hey, das klingt ja spannend! Darf ich schauen?“, fragt Ilvie neugierig.
„Ja, klar!“, ruft Leonie, springt von der Bank, wischt sich die Finger an ihrer Latzhose ab und beginnt in der Kiste zu kramen.
Eine Piratin! Eine Piratenurgroßmutter! Wie aufregend!
‚Ich denke, in der Menschenwelt wird es uns sehr gut gefallen!‘, funkelt sie ihrem kleinen Freund Theo übermütig zu.
‚Spiratin, Kiratin … was ist das bloß? Was macht man als Spiratin?‘, funkelt Theo kauend zurück. Das Menschenland kommt ihm sehr schleierhaft vor. Ilvie schüttelt den Kopf über ihren kleinen Freund. Theo muss im Menschenland noch sehr viel lernen.
„Ah, hier ist es!“, sagt Leonie und holt ein Foto aus der Kiste. „Schau, das hier ist Urgroßmutters erstes Schiff: die Anastasia!“
„Hui, ist das schön! Sieh nur, Theo! Was für ein wunderschönes Schiff die Anastasia ist!“, ruft Ilvie begeistert.
„Urgroßmutter war so klug und stark, dass sie alle anderen Piratenkapitäninnen und Kapitäne besiegt hat“, fährt Leonie fort. „Nach einer Zeit war die wunderschöne Anastasia einfach zu klein für die riesige Truppe an mutigen Frauen und Männern, die mit ihr gesegelt sind. Am Ende besaß meine Urgroßmutter das allergrößte Piratenschiff, das die Welt je gesehen hatte, beim fahnenlosen Pseudanthias Squamipinnis!“
Leonie kramt erneut in ihrer Kiste. „Hier, sieh mal!“, stolz hält sie ein altes Foto mit einem riesigen Piratenschiff in der Hand. „Das hier war das allergrößte Piratenschiff der Welt und es hat meiner Urgroßmutter gehört!“
„Wow, das ist ja wirklich riesengroß!“, staunt Ilvie. „Deine Urgroßmutter war sicher eine sehr mutige Frau!“
„Oh ja, das war sie!“, sagt Leonie und starrt gedankenversunken vor sich hin. „Meine Urgroßmutter hatte es sich zum Ziel gesetzt, in der Welt für Gerechtigkeit zu kämpfen. Sie war der Überzeugung, dass für alle Menschen auf der Welt genug Reichtümer da sind und es keine armen Menschen geben muss. Doch allein mit Worten schien es nicht zu funktionieren, die reichen Menschen davon zu überzeugen, etwas von ihrem Reichtum abzugeben. Deshalb hat Urgroßmutter irgendwann damit angefangen, die Reichen auszurauben und denen, die weniger hatten, die erbeuteten Schätze zu geben.“
Ilvie und Theo sehen sich fragend an.
‚Im Menschenland gibt es Menschen, die viel besitzen, und solche, die weniger besitzen? Das verstehe ich ja überhauptgarnicht. Warum ist das so?‘, funkelt Theo verwundert. Ilvie hat im Elfenland einmal davon gehört und es auch nicht ganz glauben können. ‚Hmm …‘, funkelt Ilvie zurück. ‚Ich weiß es nicht. Ich werde Leonie bei Gelegenheit fragen.‘
Leonie hat von Ilvies und Theos gefunkelter Unterhaltung gar nichts mitbekommen und erzählt weiter: „Das hat eine Zeitlang auch ganz gut geklappt. Meine Urgroßmutter war schnell, mutig und klug – und sie hatte eine schnelle, mutige und kluge Truppe an Frauen und Männern um sich. Und ihre Spezialität war es, gefährliche Banditen auszurauben und ihnen ihre Diebesbeute abzunehmen. Bis ihr eines Tages die böse und habgierige Sicarius-Bande eine Falle gestellt hat, die ihr zum Verhängnis geworden ist. Meine Urgroßmutter ist als Heldin gestorben und ihre Mannschaft mit ihr. Das Schiff wurde versenkt und der letzte und größte Schatz, den sie erbeutet und in einem Versteck gesammelt hatte, blieb für immer verschollen. Urgroßmutter hatte es nicht mehr geschafft, den Schatz weiter zu verschenken. Sie hatte ihn so gut versteckt, dass niemand auf der Welt ihn mehr finden konnte.“
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