„Oh, das ist ja sehr traurig … – aber auch sehr spannend“, murmelt Ilvie versonnen. „Und es gibt wirklich keine Möglichkeit mehr, den Schatz zu finden?“
„Nein …“, erwidert Leonie traurig. „Es gibt irgendwo eine Schatzkarte, auf der eingezeichnet ist, wo sich der Schatz befindet. Aber auch die Karte ist verschollen. Natürlich hat die gemeine und habgierige Sicarius-Bande jahrelang versucht, die Karte und den Schatz zu finden – das war ja schließlich auch der Grund, warum sie meine Urgroßmutter und ihre Truppe in die Falle gelockt hatte. Aber die fiesen Gauner mussten irgendwann aufgeben.“ Leonie kramt weiter in der Kiste. „Ah, hier ist es ja!“, ruft sie freudig. „Schaut, das ist das Porträt meiner Urgroßmutter!“
Ilvie nimmt das alte Foto vorsichtig in die Hand. „Was für eine stolze, tolle Frau! Und ich mag ihre Augenklappe sehr!“, sagt sie bewundernd.
Leonie kichert. „Hihihi, ja – die Augenklappe. Das war Urgroßmutters fantastischer Piratentrick: Oft hat sie an Deck der Schiffe, die sie mit ihrer Truppe geentert hat, gekämpft. Und dann hat sich der Kampf oft plötzlich nach unten verlegt, in die Kajüten und Räume unter Deck. Wenn man aus dem Sonnenlicht ins Dunkle kommt, sieht man zuerst gar nichts, die Augen müssen sich nämlich an die Dunkelheit gewöhnen … Wenn man jedoch immer ein Auge abgedeckt hat, während die Sonne scheint, und sich im Dunkeln dann diese Abdeckung abnimmt, dann kann man viel besser sehen als der Gegner, der in der Sonne beide Augen frei hatte. Musst du mal ausprobieren, funktioniert wirklich. Und was noch dazukommt: Urgroßmutter war der Meinung, sie sähe mit dieser Augenklappe verwegener und angsteinflößender aus. An Bord hat sie die Augenklappe deshalb fast immer getragen. Irgendwo auf ihrem Boot in irgendeiner Kiste muss das Ding noch sein. Vielleicht sollte ich es über mein Pflaster tun – damit würde ich sicher auch so stark und verwegen aussehen wie Urgroßmutter Grace!“, sagt Leonie kichernd.
„Warum trägst du eigentlich das Pflaster? Doch nicht wegen deiner Urgroßmutter?“, fragt Ilvie neugierig.
„Ach, nein!“, sagt Leonie. „Es ist ganz einfach so, dass mein linkes Auge nicht so gut sieht wie mein rechtes Auge. Und um mein linkes Auge zu trainieren und daran zu gewöhnen, dass es gefälligst auch besser sehen soll, decken wir mein rechtes Auge eine Zeitlang ab. So einfach ist das.“
‚Ahaa!‘, funkelt Theo. ‚Das ist ja ein Supertrick! Das probiere ich jetzt auch gleich aus, mal sehen, ob ich dann NOCH besser sehen kann!‘, funkelt er munter weiter, rutscht von der Bank, hält sich ein Auge zu und hüpft auf einem Bein herum. ‚Und vielleicht funktioniert das ja auch mit den Beinen!‘
„Oje!“, prustet Leonie. „Theo, du bist echt ein Hit! Damit könntest du im Zirkus auftreten!“
„Leonie!“, ruft da eine laute, dröhnende Männerstimme von Weitem. „Leonie!! Mittagessen! Wo steckst du denn schon wieder? Leonie!“
„Ah, das ist Papa! Ich muss schnell nach Hause zum Mittagessen!“, sagt Leonie und beginnt, die Fotos wieder in die Kiste zu packen. „Treffen wir uns nachher wieder? Wollt ihr die Anastasia sehen? Das Boot meiner Urgroßmutter steht immer noch unten im Ort in der Bootshalle, die früher als Konzertsaal verwendet wurde. Manchmal gehe ich hinunter, schaue es mir an und träume davon, wie es wohl gewesen sein muss, als Urgroßmutter damit zur See gefahren ist. Wollt ihr nach dem Mittagessen mit mir zur Bootshalle gehen?“
„Ja, klar! Und wie gerne!“, jubelt Ilvie und springt von der Schaukelbank. „Am liebsten würde ich damit sofort auf Schatzsuche segeln!“
‚Uaaah!‘, funkelt Theo empört. ‚Bist du verrückt, da draußen sind Wellen und Stürme und so ein Zeug. Ich fahre da sicher nicht mit. Da werde ich ja hundeelend-seekrank! Ich brauche keinen Schatz!‘ Trotzig stützt der kleine Affe seine Hände in die Hüften.
„Super, dann treffen wir uns doch gleich hier nach dem Mittagessen!“, sagt Leonie und läuft davon. „Ich freu mich schon!“
„Bis später!“, ruft Ilvie ihrer neuen Freundin hinterher. Doch diese ist schon verschwunden.
Ilvie setzt sich wieder neben Theo auf die Schaukelbank, schaukelt ein wenig hin und her und starrt auf das Meer.
‚Ich weiß, woran du denkst!‘, funkelt Theo empört. ‚Und: Nein, das machen wir nicht. Wir fahren NICHT aufs Meer, Ilvie! Die Abenteuer hier an Land sind schon aufregend genug für einen kleinen sensiblen Affen wie mich!‘
‚Woher weißt du denn, dass es dort draußen auf dem Meer so schrecklich ist, wenn du noch gar nie auf hoher See warst?‘, funkelt sie zurück und legt den Arm um ihren kleinen Freund. ‚Wir werden sehen, lieber Theo. Aber keine Sorge, ich passe auf dich auf, das verspreche ich dir!‘
EIN WUNDERSCHÖNES RIESIGES BOOT
Hey, das ist ja wirklich cool! Was für ein wunderschönes riesiges Boot!“ Ilvie ist begeistert. „Und das war das kleine Boot deiner Urgroßmutter?“
Leonie hat die beiden Freunde gleich nach dem Mittagessen wieder bei der Schaukelbank getroffen und sie zum alten Bootshaus geführt.
„Ja, die Anastasia ist wirklich ein besonders schönes Boot. Schade, dass sie schon so lange nicht mehr im Wasser war!“, antwortet Leonie.
„Stell dir vor, wie fantastisch es wäre, damit zur See zu fahren und den Schatz zu finden!“, sagt Ilvie verträumt. „Wir würden tagelang übers Meer segeln, wunderbare Inseln umrunden, alle möglichen Menschen und Völker kennenlernen … und die Mission deiner Urgroßmutter zu Ende führen, zu der sie leider nicht mehr gekommen ist. Stell dir nur vor, Leonie, wir würden den Schatz finden!“
Ilvie ist ganz aufgeregt.
Theo versteckt sich schnell hinter einer Kiste, die neben dem alten Boot herumsteht. Er kann es nicht fassen. Das ist wieder mal typisch Ilvie. Wenn es nach ihr ginge, säßen sie alle drei schon auf diesem dummen Boot und würden durch die Weltgeschichte schippern. Wie anstrengend das doch alles ist! Abenteuer! Pah! Kann man nicht einfach mal in Ruhe auf der Wiese liegen, sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und ein paar Cupcakes verdrücken? Warum nur muss man dauernd Abenteuer erleben?
„Oh ja, das wäre super“, erwidert Leonie. „Nur: Das Boot ist schon sehr alt. Und wir wissen nicht, wo die Schatzkarte ist. Und außerdem bin ich nicht sicher, ob wir gut genug segeln können, um so ein großes Schiff zu führen …“
Theo atmet erleichtert auf (natürlich heimlich).
„Das heißt … du kannst wirklich segeln, Leonie?“, fragt Ilvie listig grinsend.
Theos heimlich aufkeimende Hoffnung ist schon wieder dahin. Er kennt Ilvie.
„Na klar, jeder von uns hier kann segeln. Ich segle schon, seit ich drei Jahre alt bin …“, erwidert Leonie zögernd. „Aber die riesige Anastasia …? Außerdem bleibt immer noch die Tatsache, dass wir nicht wissen, wo diese Schatzkarte ist. Und ohne Schatzkarte kein Schatz …“
„Tja, aber vielleicht finden wir sie ja irgendwo, diese Schatzkarte …“, erwidert Ilvie. „Glaubst du, wir können diese Plane mal von der Anastasia runternehmen? Ich würde sie so gerne sehen, ohne diese Abdeckung drüber!“, fügt sie hinzu und zieht an einer Ecke der Plane, die die Anastasia bedeckt.
„Ja, das machen wir! Die Schöne gehört echt mal wieder ein bisschen abgestaubt!“, sagt Leonie und macht sich auf die Suche nach einer Leiter. Kurze Zeit später schleift sie die riesige Leiter, die sie in einer Ecke gefunden hat, zu dem alten Boot und klettert rasch hinauf.
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