Dann lachten beide und er hatte bis zum nächsten Mal seine Ruhe. Das waren nicht die einzigen Momente, in denen er sich einen Vater wünschte.
Nach dem Gespräch mit Tante Eva, wie er sie seit seinem vierten Lebensjahr nannte, hatte er sich in mehreren Hotels, von denen es eine Menge gab, beworben und schließlich hatte er einen Ausbildungsplatz im Vision Inn erhalten. Er war sehr froh darüber, denn eigentlich hatte er das Alter eines Auszubildenden schon überschritten. Dass der Chef dieses Luxushotels ein Freund der Ferrers war, wusste er nicht.
Es hatte gleich zu Beginn ganz danach ausgesehen, als könne er es mit seiner freundlichen und verbindlichen Art wirklich zu etwas bringen. Man hatte ihm gesagt, dass er als Praktikant erst einmal alle Stationen des Hotelbetriebs durchlaufen müsse, angefangen von der Küche und der Patisserie über den Zimmerservice, die Bar, die Restaurants bis zur Rezeption des Vision Inn. Auf die Küche hatte er sich besonders gefreut, denn für das Kochen hatte er sich schon als kleiner Junge interessiert. Oft war er seiner Mutter dabei zur Hand gegangen. Die Ausbildung selbst, wenn er sich dann dafür entscheiden sollte, und man ihn auch nähme, würde vier Jahre dauern. Danach war immer noch Zeit, eine Familie zugründen, wie er fand.
Die Personalabteilung des Vision Inn war ihm behilflich gewesen, eine kleine, bescheidene Wohnung in der Nähe seines neuen Arbeitsplatzes zu finden, sodass Manu ihr Apartment jetzt manchmal sehr groß vorkam. Sie hatte nur Jimmy, der seinen Vater nicht kannte. Eigentlich hieß er Jim, aber für sie war und blieb er ihr Jimmy. Manu war sich selbst nicht hundertprozentig sicher, welcher der beiden einzigen Männer, mit denen sie in ihrem Leben zusammen gewesen war, Jims Vater war. Aber wenn sie ganz ehrlich zu sich war, und das fiel ihr in diesem Fall schwer, weil es ihr überhaupt nicht gefiel, erkannte sie ihn in Jimmys Augen. Fast täglich schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Rest der Gene von ihr stammten.
Ihrem Sohn hatte sie auf dessen Fragen nach seinem Erzeuger, die in den letzten Jahren seltener geworden waren, immer nur erzählt, sein Vater sei kurz nach seiner Geburt gestorben. Und da ihr dabei jedes Mal Tränen in den Augen standen, hatte Jimmy auch nicht weiter nachgebohrt.
Zwei Männer waren in all den Jahren ihres Lebens die einzigen Beziehungen geblieben. Seit dem schrecklichen Ereignis vor fast vierundzwanzig Jahren und dem einige Monate darauf folgenden Selbstmord ihres zweiten Freundes, der den Rest seines Lebens nicht in einem Rollstuhl verbringen wollte, hatte sie sich an keinen Mann mehr gebunden.
Manchmal, wenn sie wieder einmal nicht schlafen konnte, hatte sie festgestellt, dass der Schock immer noch tief in ihrer Seele saß.
* * *
Nach Vincents Flucht war Scotty Valeren zum Rathaus aufgebrochen, um sich dort möglichst unauffällig umzuhören. Er wollte nicht noch mehr Staub aufwirbeln. Wenn sich auch nur eine seiner Befürchtungen bewahrheitete, lag schon genug in der Luft. Unterwegs pfiffen es die Spatzen bereits von den Dächern, dass der künftige Herr von Raitjenland des Mordversuchs an der Seherin Brigit verdächtigt wurde und sich durch seine überstürzte Flucht selbst schwer belastet hatte. Seine Verfolger, Jobol und Jeroen, die ihm mit ihren Hunden so dicht auf den Fersen gewesen waren, hatten in seinem Zimmer lediglich das noch warme Bett vorgefunden und später einen verdutzten Jared Swensson zurückgelassen, der verzweifelt nach einer Erklärung für das plötzliche Verschwinden seines Sohnes gesucht hatte. Ihm war angst und bange geworden bei dem Gedanken, seiner Frau sagen zu müssen, was man ihrem über alles geliebten Sohn zutraute. Die Nachricht hatte sie dann wohl doch schneller erreicht, als ihm lieb sein konnte, denn plötzlich hatte Elisabeth, noch im Morgenmantel, kreidebleich und um Jahre gealtert in der Tür gestanden. Sie hatte sich mit einer Hand schwer auf die Klinke gestützt, so als wenn sie jeden Moment zusammenbrechen würde, und hatte mit Tränen in den Augen und mit gebrochener Stimme, die Jared augenblicklich einen Schauer über den Rücken jagte, geflüstert: »Wir werden unseren Sohn nie mehr wiedersehen, Jared, nie, nie mehr.«
Das sollten für lange Zeit ihre letzten Worte gewesen sein, die sie überhaupt zu irgendjemandem sprach. Mit einem tiefen Schluchzen hatte sie sich umgedreht und war mit schleppendem Gang in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Die Tür hatte sie mit einem lauten Klicken hinter sich abgeschlossen. Dieses Geräusch war ein einziger Vorwurf gewesen und dieser hatte den Herrn von Raitjenland bis tief ins Mark getroffen.
Nachdem Elisabeth die Küche verlassen hatte, hatte Jared sich an den schweren Eichentisch gesetzt, sein Gesicht in die Hände gestützt und hemmungslos geweint. Auch wenn er die Visionen seiner Frau immer als weibliche Spinnereien abgetan hatte, hatte er jetzt instinktiv gespürt, dass sie dieses Mal recht haben könnte. Und er hatte jetzt selbst eine Vorahnung: Die letzten Minuten würden das Leben auf der Farm für immer verändert haben.
Wie oft hatten sie sich wegen der Erziehung ihres einzigen Sohnes gestritten! Jared hatte seiner Frau mehr als einmal vorgeworfen, Vincent zu verhätscheln, wenn sie sich wieder schützend vor ihren Sohn gestellt hatte, und sie dann Gegenvorwürfe an ihn gerichtet, dass er den Jungen zu hart anpacke und viel zu viel von ihm verlange. Ihre Gespräche über Vincent waren immer ähnlich verlaufen.
»Zu hart?«, hatte er dann zum Beispiel erwidert. »Glaubst du, diese Farm kann er einmal führen, wenn er nicht früh genug mit den Realitäten dieses Betriebes vertraut gemacht wird? Ich lasse ihm doch wirklich alle Freiheiten, er kann sich nicht beklagen. Lesen wir ihm nicht jeden Wunsch von den Augen ab? Dafür könnte er sich wirklich hin und wieder erkenntlich zeigen. Sogar seinen Freund Scotty kann man im elterlichen Betrieb öfter antreffen als unseren Sohn hier auf der Farm.«
»Du und deine sogenannten Realitäten, es gibt auch noch anderes im Leben, was er erfahren soll und worauf es eben auch ankommt. Es gibt mehr als immer nur die Arbeit.«
»Ach ja? Aber wir leben doch ganz gut von dieser Arbeit – oder etwa nicht? Man bekommt im Leben nichts geschenkt«, konterte er dann gereizt. Und so gab ein Wort das andere.
Innerlich verfluchte er sich jedes Mal dafür, denn er liebte seine Frau sehr. Dass man im Leben nichts geschenkt bekam, wusste sie genauso gut wie er. Elisabeth, er nannte seine Frau zärtlich Liz, war schließlich die Tochter des reichen Getreidefarmers Wayne Goddard, der mit Jareds Vater die gleiche Leidenschaft teilte, nämlich die Pferdezucht, und mit ihm auch in geschäftlicher Verbindung stand. Auf den Hengstparaden waren sie bei den Versteigerungen manches Mal auch schon Konkurrenten gewesen. Jared hatte seine Frau auf einem Heubodenfest in Onden kennengelernt, als er dreiundzwanzig Jahre alt war, und sich gleich in sie verliebt. Da dies auf Gegenseitigkeit beruhte und auch die Eltern die Verbindung befürwortet hatten, heiratete das junge Paar bereits nach einem halben Jahr. Der ersehnte Nachwuchs war allerdings lange ausgeblieben und erst, als die beiden sich schon schmerzlich damit abgefunden hatten, ohne Erben zu bleiben, war Vincent doch noch geboren und sogar von einem der Großväter als Geschenk Gottes bezeichnet worden.
Die ersten Jahre in Vincents Leben waren problemlos verlaufen und die Großeltern Swensson und Goddard schienen eine Art Wettkampf im Verwöhnen auszutragen, der manchmal merkwürdige Blüten trieb. Im Alter von zwei Jahren besaß Vincent bereits zwei Ponys, ein braun-weiß geschecktes von den Swenssons und ein schwarzes mit einer weißen Blesse auf der Stirn von den Goddards. Immerhin war aus Vincent ein guter Reiter geworden und in den Regalen seines Zimmers standen zahlreiche Pokale, die er auf Turnieren gewonnen hatte. Da Vincent auf Raitjenland aufwuchs, war es selbstverständlich, dass er alle Feiertage und später auch seine Schulferien auf der Goddardschen Farm verbrachte. Jared hatte seinen eigenen Vater nicht wiedererkannt, denn er selbst war von diesem nie verwöhnt worden. So betrachtete er das Ganze eher skeptisch, weil er befürchtete, dass sein Sohn, den er liebte, zu sehr verweichlichen würde.
Читать дальше