»Jetzt ... ich erinnere mich doch!«, hatte Maria dann gerufen.
»Da war ein Mann, der hat sich an allen vorbeigedrängt! Er hatte nichts eingekauft, hatte keinen Korb, keine Tasche ... nichts. Der hat mich angerempelt und so komisch geschaut! Jesus!«, es klang wie ›Jesses‹. »Meinen Sie, das war das Monster, das unsere Engelchen entführt hat? Ich weiß noch ... in diesem Moment hatte ich so ein Gefühl wie ... kennen Sie das? Als wenn die Welt für einen Moment aufgehört hätte sich zu drehen. Mein Gott! Wie konnte ich den Kerl vergessen, Sir? Es ist wohl alles ein bisschen viel für mich, es ist so schrecklich!« Marias Augen waren vor Entsetzen ganz groß geworden und sie hatte sich mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen, dass es leise, aber unüberhörbar geklatscht hatte.
»Sehr gut. Können Sie ihn beschreiben, Mrs. Gonzales, äh ... Maria?« Mikes Stimme war ganz ruhig gewesen. »Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig.«
»Nein ... es ging ja schnell ... oder ... warten Sie, es gibt doch etwas, nur eine Einzelheit, an die ich mich erinnere, und die ist nicht klein, ich sehe sie gerade förmlich vor mir. Eine Raubvogelnase, ja, eine ziemlich große, gebogene Nase. Irgendwie passte sie nicht zu dem Typ, das dachte ich noch. Und, ja, Augen wie aus Stahl, er hatte einen Blick wie aus Eis. Aber dann war er auch schon weg und ich musste meine Sachen einpacken, weil von hinten wieder gedrängelt wurde.« Maria hatte laut geseufzt. »Mehr weiß ich nicht, es tut mir so leid, wenn ich geahnt hätte, dass das der Entführer der Kleinen ist, glauben Sie mir, ich hätte ihn nicht einfach gehen lassen«, hatte sie gejammert.
»Bringen Sie uns die Kinder zurück, Mr. Stunks, ich flehe Sie an.«
»Nun mal langsam mit den Pferden, Maria, wir wissen weder, ob das der Entführer war, noch ob er den Brief in ihre Tasche getan hat. Es ist eine reine Vermutung, dass es dieser Mann war. Sind Sie sich sicher, dass Sie ansonsten mit niemandem Kontakt hatten? Bitte denken Sie noch einmal genau nach, das mit der Rempelei ist Ihnen ja auch nicht gleich eingefallen.«
Mike hatte innerlich dem Schicksal gedankt, dass Maria im Supermarkt nicht eingegriffen hatte. Nicht weil ihm der Überbringer des Briefes leid getan hätte, sondern weil er sich sicher gewesen war, dass es sich bei den Entführern um mindestens zwei Personen gehandelt hatte. Jemand musste das Auto gefahren haben, mit dem die Kinder abgeholt wurden, ein anderer hatte sicherstellen müssen, dass der richtige Chauffeur, der vielleicht ausgerechnet an diesem Tage früher dran war, lange genug beschäftigt war und eventuell nochmals aufgehalten werden konnte. Mit dieser Vermutung hatte Mike allerdings falsch gelegen.
»Nein«, hatte Maria stirnrunzelnd nach einer weiteren kurzen Pause gemeint, »ich bin nach dem Einkaufen direkt nach Hause gegangen, da war nichts mehr.«
»Na, jedenfalls danke ich Ihnen, Maria, Sie haben uns sehr geholfen.« Das hatte er zwar nicht wirklich so gemeint, hatte sich aber für den Fall, dass Maria eventuell doch noch etwas einfiele, eine Hintertür offen lassen wollen.
Mike Stunks hatte gesehen, dass in dem Moment nicht mehr aus der Frau herauszuholen war, und deshalb hatte er sich als Nächstes dem Umschlag gewidmet. Es war mit den Siskos ausgemacht worden, dass alles, was an Post eventuell ins Haus kam, zunächst von ihm untersucht werden würde. Mike hatte
nicht einen Moment daran geglaubt, dass eventuelle Forderungen auf dem sonst üblichen elektronischen Weg eintreffen würden, dazu waren sie zu leicht zurückzuverfolgen.
Die Entführer hatten bereits gezeigt, dass sie nicht auf den Kopf gefallen waren. Man würde ganz sicher auch keinen der staatlich geprüften Kurierdienste beauftragen, die auf schnellstem Weg kleinere Warensendungen oder wichtige Dokumente, die man nicht elektronisch übermitteln konnte, ihrem Empfänger zukommen ließen. Mit dieser Vermutung hatte er recht behalten.
Er hatte sich nach dem Verhör der Haushälterin in seinen Gästebereich zurückgezogen, in dem er ein kleines Labor aufgebaut hatte. Die Untersuchung auf Fingerabdrücke hatte nichts erbracht, worüber er auch nicht sonderlich erstaunt gewesen war.
Wer eine solche Entführung plant und durchführt, der tatscht nicht auf seinem Erpresserbrief herum, war ihm durch den Kopf gegangen. Er hatte das Kuvert dennoch fast so behutsam geöffnet wie ein Chirurg eine Herzkammer, weil er alles vorsichtshalber noch im großen Labor der NSPO hatte untersuchen lassen wollen.
Er hatte seine dünnen weißen Stoffhandschuhe getragen, die er routinemäßig immer dabeihatte. Man konnte letzten Endes nie vollkommen sicher sein. Er hatte in seiner kriminalistischen Laufbahn schon ›Pferde vor der Apotheke kotzen sehen‹, wie er gerade erst vor ein paar Tagen einem jungen Kollegen erklärt hatte, und zwar mehr als nur einmal.
Außerdem hatte man ihm an der Hochschule für Kriminalwissenschaften beigebracht, dass die meisten Verbrecher irgendwann, und sei es auch erst nach der Tat, einen Fehler machen – auch diejenigen, oder insbesondere diejenigen, die sich für besonders clever hielten. Dieses Sich-für-besonders-clever-Halten war genau ihr Schwachpunkt, ihre Hybris, die sie zu Fall brachte.
Adressiert war der Umschlag gewesen an ›Die Firmenleitung von Sisko ESS, zu Händen Herrn Herb Sisko, streng vertraulich‹. Mike hatte sich, wie ausgemacht, von dem Zusatz ›streng vertraulich‹ nicht beeindrucken lassen und zwei bedruckte DIN A4 Papierbögen aus dem Umschlag herausgezogen.
Dann hatte er in einem der schweren, komfortablen Ledersessel Platz genommen – Sessel, die denjenigen, der sich ihnen anvertraute, zu verschlucken schienen. Auch wenn Informatik in der Schule nicht zu seinen Lieblingsfächern gehört hatte und er diese Sprache nicht gut beherrschte, hatte er sofort gesehen, dass es sich bei der Menge an Nullen und Einsen, mit denen eines der Blätter beschrieben war, um ein Computerprogramm handelte.
Das zweite Blatt hatte Folgendes zum Inhalt – und für diese Sprache war er Experte:
»Wenn Ihnen Ihre Kinder am Herzen liegen, und davon gehen wir aus, bitten wir Sie, die nächste Produktion des ICD, die in einem Vierteljahr fertig sein soll, mit beiliegenden Programm zu versehen.«
»›Bitten wir Sie!‹... Sarkasmus gepaart mit Gewalt ist eine gefährliche Kombination ... ›ein Vierteljahr‹, die sind gut informiert«, hatte Mike kopfschüttelnd gemurmelt, bevor er weitergelesen hatte.
»Wir haben den Kleinen inzwischen den Prototyp implantiert. Sollten Sie unseren Forderungen nicht nachkommen – und wir können Ihnen versichern, dass wir die Möglichkeit haben, das zu überprüfen –, werden wir ein kleines Programm unserer Version des ICD im Körper Ihrer Kinder aktivieren. Sie können sich nicht vorstellen, wie unangenehm das sein wird.
Der Tod wäre in diesem Falle das kleinere Übel. Kommen Sie unseren Forderungen nach, werden Ihre Kinder ein ganz normales Leben führen, so als ob nichts passiert wäre. Was allerdings geschieht, wenn Sie zu irgendeinem späteren Zeitpunkt die Baupläne des ICD wieder ändern sollten oder Informationen über den Inhalt dieses Schreibens an die Öffentlichkeit dringen, überlassen wir Ihrer Fantasie. Das Gleiche gilt selbstverständlich für den Fall, dass Sie die ICDs Ihrer Söhne wieder austauschen oder den Versuch unternehmen sollten, sie anderweitig zu manipulieren. Seien Sie versichert, dass wir das bemerken würden. Sie werden verstehen, dass wir diesen Brief nicht unterzeichnen können, was bei Ihnen aber bitte keinen Zweifel an unserer Ernsthaftigkeit aufkommen lassen möge. P.S.: Wir werden es bei diesem einen Schreiben belassen. Betrachten Sie es bitte als einmalige Chance. Sie haben das Schicksal Ihrer Söhne in der Hand.«
Herb Sisko war eine Stunde später beim Lesen des Briefes noch blasser geworden, als er ohnehin schon gewesen war, und hatte ihn auf den kleinen, mit einem Schachmuster verzierten Tisch neben seinem Sessel gelegt. Mike Stunks hatte zunächst nur still dagesessen, war dann aufgestanden und im Raum hin- und hergegangen, wie er es gerne tat, wenn er nachdenken musste. Dabei war er in Gedanken bei möglichen Motiven und Täterprofilen gewesen. Er hasste es, im Dunkeln zu tappen, aber hier hatte er ein kleines Licht am Horizont gesehen, denn man hatte etwas in der Hand, wenn auch nur aus Papier. Die beiden Männer hatten sich in der Bibliothek des Hauses aufgehalten und Herb Sisko hatte gewiss einen oder zwei Brandys zu viel getrunken – wie an jedem Abend der letzten beiden Wochen. Trotzdem hatte er kaum Schlaf gefunden und nach diesem Brief würde sich sein Zustand sicher nicht verbessern, wie Mike vermutet hatte.
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