Ich atme tief durch.
Dann rubble ich vorsichtig und andächtig mit einem Einfränkler die Silberfolie auf meinem Los weg.
Und plötzlich steht es da:
WIN WIN WIN.
Dreimal!!!
Ich lese noch einmal die Erklärungen.
»Finden Sie dreimal das Wort ›WIN‹, so gewinnen Sie viertausend Franken monatlich während zwanzig Jahren.«
WIN WIN WIN.
Es ist eigentlich eindeutig, ich glaube es nur irgendwie nicht. Wie könnte ich auch: Ich habe noch nie etwas gewonnen. Doch, einmal, als junge Frau. Da habe ich im Pfarrei-Lotto eine riesengroße Salami mit nach Hause nehmen dürfen. Seither hatte ich nur Glück in der Liebe.
WIN WIN WIN.
Ich schaue um mich, glaube fast, von irgendwem verschaukelt zu werden. Aber da ist keiner. Da ist nur dieses Los, das vor mir auf dem Tisch liegt und mich anlacht.
WIN WIN WIN.
Bedeutet das jetzt wirklich, dass ich zwanzig Jahre lang viertausend Franken im Monat bekomme?
Ich glaube schon.
Ziemlich sicher.
Ich habe den Hauptgewinn geknackt.
Ich weiß, ich sollte jetzt schreiend durch das Haus tanzen. Ich könnte Bärbel und Guido anrufen, meiner Tochter Claire Bescheid geben oder einfach einen öffentlichen Facebook-Eintrag machen. Stattdessen bleibe ich wie versteinert am Küchentisch sitzen. Es ist so unglaublich, so unfassbar. Ich glaube, ich stehe unter Schock.
Ein unerklärliches Misstrauen macht sich in mir breit. Wird mir so ein Gewinn wirklich Glück bringen? Keine Ahnung, warum ich das denke. Viertausend Franken im Monat sind für eine Bähnlerin verdammt viel Geld. Die Löhne bei Bergbahnen sind eher bescheiden. Und am Stanserhorn verdiene ich im Winter jeweils gar nichts, weil die Bahnen nur im Sommer unterwegs sind. Viertausend Franken im Monat, das ist wie eine Lottomillion, nur irgendwie fast mehr, weil das Geld in Raten und regelmäßig kommen soll. Wird das wirklich funktionieren? Ist auf so ein Versprechen Verlass? Ist das seriös? Könnte man die Summe einklagen, wenn sie auf einmal ausbliebe? Wenn das wirklich wahr ist: Dieser Gewinn würde mich bis weit über meine Pensionierung begleiten. Wahnsinn!
Ich sitze immer noch einfach so da.
Still und bewegungslos.
Erst ganz langsam empfinde ich Freude und Glück. Die schönen Gefühle kommen langsam über mich, wie ein warmer Sommerregen. Und ich fange an zu weinen. Nur so ein bisschen. Der Situation angemessen.
Ich muss nämlich ganz fest an meine Mutter denken, die sich zeitlebens immer um ihr Auskommen gesorgt hat, die sogar im Altersheim, schon leicht verwirrt, immer befürchtete, ihre Finanzen würden für ihren Lebensunterhalt nicht ausreichen. Dabei hatte sie inzwischen eine ganz ordentliche Summe auf ihrem Bankkonto. Aber sie war arm aufgewachsen, sehr arm, und sie konnte ihre Angst davor, wieder nichts zu haben, nie ganz ablegen, obwohl mein Vater als Apotheker sehr gut verdient hatte. Und sie gab mir diese Angst mit auf meinen Lebensweg.
Jetzt aber würde sich meine Mutter viel enthusiastischer freuen als ich. Sie würde Feuerwerk entzünden, eine Blaskapelle engagieren, die internationale Presse zu einem Imbiss einladen. Endlich müsste sie sich kein bisschen mehr um mich sorgen. Ich weiß noch, wie glücklich sie war, als ich Guido heiratete. Mir selber traute sie nämlich nicht so recht über den Weg: Würde ich es schaffen, mich mit meinem lausigen Job als Coiffeuse über Wasser zu halten? Sie fühlte sich in ihrer Sorge bestätigt, als ich von all den Mitteln, mit denen meine Haut in Kontakt kam, Allergien bekam, die immer schlimmer wurden. Mein selbst gewählter und geliebter Beruf machte mich schließlich so krank, dass ich ihn aufgeben musste. Danach versuchte ich mich in diversen Jobs, arbeitete im Verkauf, machte Stadtführungen in Luzern und erledigte eine Weile für Guido die Büroarbeiten. Bis ich dann vor sechs Jahren den Direktor der Stanserhorn-Bahn kennen lernte. Er bot mir an, am Stanserhorn zu arbeiten. Und ich war mehr als bereit, es zu versuchen.
Glück, Freude und Tränen, ein Wechselbad der Gefühle, ein Durcheinander. Ein »Gnosch«, wie mein Enkel Moritz das bezeichnen würde. Ich habe nun also ausgesorgt, so würde das meine Mutter nennen. Obwohl ja Guido problemlos für mich sorgen könnte und würde. Natürlich hat er mich auch nie zum Arbeiten gezwungen. Er verdient mehr als genug. Ich wollte aber arbeiten. Schon immer. Um mir damit das schöne Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten.
Trotzdem: Wenn ich wollte, könnte ich jetzt einfach nur noch auf dem Sofa sitzen und Musik hören, bis an mein Lebensende. Oder auf Reisen gehen. Mir exotische Tiere anschaffen. Socken stricken. Oder töpfern …
Lange denke ich darüber nach, was ich denn jetzt wirklich machen möchte, was ich in meinem Leben verändern sollte, wollte, könnte – mit diesem unerwarteten Geldregen. Und mir fällt auf: Ich habe eigentlich gar keine großen Träume, die ich schon lange vor mir herschiebe. Eigentlich gefällt mir mein Leben so, wie es ist. Ich habe Guido. Ich habe Claire und Moritz. Ich habe Bärbel. Ich habe das Stanserhorn. Das ist mehr, als manch einer hat. Das ist mehr als irgendein Losgewinn. Ich habe eigentlich alles.
Dingdongdung.
Mein Skype meldet sich. Mon Dieu! Ich habe meine Französischstunde vergessen.
Und so kommt es, dass ausgerechnet Pierre aus Paris der Erste ist, der von meinem Glück erfährt. Mehrmals lässt er sich von mir die Zahl »viertausend« übersetzen, weil er denkt, ich hätte mich da vertan. Ich habs nämlich nicht so mit den Zahlen.
»Quatre mille francs suisses? Chaque mois? Pendant vingt ans? Tu es sûre, ma chère Judith?«, fragt er mehrmals ungläubig, mit großen, fragenden Augen, bis ich ihm die Zahl als Notiz schicke und ihm das Rubbellos in die Kamera halte.
Er habe noch nie jemanden gekannt, der so einen großartigen Preis gewonnen habe, freut sich Pierre mit mir und strahlt mehr als ich. Ich erzähle ihm von meiner Riesensalami, wir lachen und unterhalten uns darüber, dass Salami auch auf Französisch Salami heißt und auch auf Englisch oder auf Griechisch. Ich liebe solche Wörter. Als er hört, dass noch niemand von meinem Los weiß, findet er das ein wenig merkwürdig. Ich müsse das doch in die Welt hinausschreien.
… dans le monde entier …
Er will unbedingt wissen, was ich mir nun leisten werde. Irgendetwas. Jeder habe doch einen geheimen Wunsch!
… un souhait secret …
Und dann steht es plötzlich in Großbuchstaben vor mir: JETZT ODER NIE!
Ich werde für Guido und mich eine wunderschöne luxuriöse Parisreise buchen, mit allem Drum und Dran. Nicht gerade für morgen, aber vielleicht für September, sodass er in seiner Praxis alles organisieren kann.
»Ja, ich habe einen Wunsch. Der ist nicht einmal geheim. Paris! Wir kommen dich in Paris besuchen!« Pierre wirkt irgendwie bestürzt, und einen Augenblick lang ist er sprachlos. Darum schicke ich schnell hinterher: »Keine Sorge, wir wohnen nicht bei dir.«
Das beruhigt ihn. Seine Gesichtszüge entspannen sich wieder. So viel zur Gastfreundschaft der Pariser!
Nach meiner Französischstunde folge ich dem guten Rat von Pierre, zuerst bei der Lotteriegesellschaft anzurufen, bevor ich mit dem Feiern anfange. Sofort werde ich mit einem netten Herrn verbunden. Stefan Meister erklärt sich bereit, mit mir zu skypen, damit ich ihm das Los in die Kamera halten kann. Ich habe immer noch Angst, dass ich irgendetwas übersehen oder falsch verstanden habe.
»Das sieht gut aus, soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Ich gratuliere ganz herzlich!«, sagt er nach einer kurzen Musterung des Loses.
»Was muss ich jetzt tun?«, frage ich, und mein Herzklopfen wird immer stärker.
»Stellen Sie mir das Los per Einschreiben zu. Sobald wir in seinem Besitz sind, kontaktieren wir Sie schriftlich. Sie müssen sich dann entscheiden, ob Sie eine Einmalauszahlung oder die Rente möchten. Sobald wir eine schriftliche Antwort und Ihre Kontoangaben haben, werden wir die Zahlung in die Wege leiten. Falls Sie die Rente haben möchten, wird sie Ihnen Anfang des nächsten Kalendermonats zum ersten Mal überwiesen.«
Читать дальше