Auf meiner Liste dümpelt Paris seit langem vor sich hin, verstaubt und verschimmelt da langsam. Und schon oft war ich versucht, mir eine schöne Parisreise zusammenzustellen und allein zu verreisen. Oder meine Tochter Claire dazu einzuladen. Vielleicht sogar mit Kolleginnen zu fahren.
Aber nein, das lässt mein Kopf nicht zu. Vielleicht auch mein Herz nicht. Eine Hochzeitsreise bis in alle Ewigkeiten vor sich herzuschieben, ist die eine Sache. Sie dann abzusagen und aufzugeben, eine ganz andere.
Am Feierabend drückt mir Simon das »Schweizer Magazin« in die Hände.
»Viel Glück, Judith!«, sagt er.
Und natürlich setze ich mich zu Hause hin und öffne die Zeitschrift. Keiner kennt Paris so gut wie ich. In der Theorie zumindest. Ich habe alles über Paris gelesen, jeden Film und jede Reportage darüber gesehen.
Seite 21, tatsächlich, da ist der Wettbewerb. Eine leichte Übung; erst recht, weil die Lösung nur aus drei verschiedenen Vorschlägen gewählt werden muss.
Die Avenue des Champs-Élysées ist 1,9 Kilometer lang.
Der Eiffelturm ist 300 Meter hoch, ohne Antenne. Obwohl ich da noch anzumerken hätte: Die Länge des Turms schwankt um einige Zentimeter, je nach Jahreszeit, weil sich der Stahl in der Sommerhitze ausdehnt. Aber das ist Wissen für Fortgeschrittene.
Die Stadt Paris hat über 2,2 Millionen Einwohner.
Die Bürgermeisterin heißt Anne Hidalgo.
Das wars.
Dafür musste ich nicht einmal Wikipedia konsultieren. Ich könnte ein Buch über Paris schreiben oder Touristen durch die Stadt führen. Aber ich war noch nie da. Weil Guido nicht kann. Weil seine Tierarztpraxis wächst und wächst und er zwar immer mehr Mitarbeiter hat, trotzdem aber meint, absolut unabkömmlich zu sein.
Natürlich gab es zwischendurch auch Zeiten, da wäre eine Reise tatsächlich nicht möglich gewesen. Als wir unsere Tochter Claire bekamen, unseren Sonnenschein, da wollten wir nicht auf eine Städtereise, haben Familienferien gemacht, das war auch schön – aber es war keine Hochzeitsreise. Später gab es Krankheiten, Unfälle. Meine Eltern starben. Guidos Praxis wurde umgebaut. Es war immer irgendetwas. Den letzten ernsthaften Versuch, unseren Honeymoon nachzuholen, unternahmen wir vor fünf Jahren. Es war alles gebucht, und ich konnte nicht mehr schlafen vor lauter Vorfreude. Da starb unerwartet unser Schwiegersohn Erwin an einem Schlaganfall, und Claire stand mit dem einjährigen Moritz allein da, völlig gebrochen und extrem hilfsbedürftig. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihr Leben wieder im Griff und sich als alleinerziehende Mutter organisiert hatte. Monatelang pendelte ich ständig zwischen ihrem und unserem Haus hin und her. Auch Guido engagierte sich mit vollem Einsatz.
»Hast du überhaupt noch Lust auf eine Hochzeitsreise, nach all den Jahren? Hat die nicht auch ein Verfallsdatum?«, fragte mich meine Freundin Bärbel neulich provokant und schob dann nach: »Ich hätte keine Lust mehr auf Flitterwochen mit meinem Berti. Das käme mir ja direkt lächerlich vor, so wenig, wie wir uns noch zu sagen haben.«
»Na ja, ich weiß nicht, vielleicht wäre es gerade deshalb wichtig? Die Stadt der Liebe, der Romantik, l’amour toujours … Sicher inspirierend und animierend …« Leise sang ich: »Ganz Paris träumt von der Liebe …«
Bärbel lachte nur und winkte ab.
Und sie hat natürlich recht. Eine Reise nach Paris hätte vor dreißig Jahren eine andere Bedeutung gehabt als heute. In meiner romantischen Vorstellung sah ich uns damals Hand in Hand durch malerische kleine Gassen der riesigen Stadt bummeln, verliebt in traditionellen Bistros herumschmusen, Liebesschwüre auf dem Eiffelturm austauschen. Ich freute mich auf das Nachtleben, auf stimmungsvolle Candle-Light-Dinners und erotische Abendshows, lange Spaziergänge an der Seine, eng umschlungenes Tanzen in schummrigen Bars.
Heute wäre es einfach eine Städtereise, das Einlösen eines Versprechens und – ja – doch irgendwie auch ein Bekenntnis zu mir. Ich weiß, Guido ist Paris nicht wichtig, aber er weiß, wie wichtig mir die Stadt ist. Und es reicht einfach nicht, wenn er mir Bettwäsche voller kleiner Eiffeltürme oder ein Goldkettchen mit einem zierlichen Eiffelturm-Anhänger schenkt. Das Gemälde im Wohnzimmer, das den Eiffelturm im Abendrot zeigt, war auch nur gut gemeint. Claire hatte als Kind sogar einen aufblasbaren Eiffelturm. Ich fands süß, als Guido damit ankam. Aber eben …
Vielleicht sollte ich meinem Guido mal die Bärbel-Frage stellen: »Hast du eigentlich noch Lust auf eine Hochzeitsreise mit mir?«
Aber will ich die Antwort auch wirklich hören?
Ich schicke die Lösungen für den Pariswettbewerb übers Internet ab und schwöre mir, diese Reise, sollte ich sie gewinnen, auch wirklich anzutreten, notfalls mutterseelenallein. Dann gehe ich schlafen. Morgen muss ich wieder um sieben zum Dienst antreten. Zum Glück bin ich bei der Cabrioseilbahn ganz oben eingeteilt. Das ist gut so, weil es möglicherweise ein wenig regnet. Beim oberen Dienst wird man immerhin nicht nass, weil man in der Gondel ein Dach über dem Kopf hat und nicht vorn im Regen stehen muss wie auf der Standseilbahn.
Es ist oft so, dass Guido erst heimkommt, wenn ich schon schlafe. Manchmal muss er auch mitten in der Nacht ausrücken. Darum haben wir getrennte Schlafzimmer. Heute werde ich allerdings wach, weil er um zwei Uhr morgens laut in der Küche herumhantiert. Ich höre, wie er vor sich hin schimpft. Das ist doch recht ungewöhnlich, und so stehe ich auf, um nachzuschauen, ob etwas passiert ist.
Mein Göttergatte sucht im Kühlschrank nach irgendwas.
»Hallo, Schatz«, sage ich.
Guido erschrickt, weil ich so unerwartet auftauche, und als er sich zu mir umdreht, geht es mir genauso, denn er sieht furchtbar aus.
»Jesses, was ist denn mit dir passiert?«, platzt es aus mir heraus.
»Schon gut, schon gut«, versucht er mich zu beruhigen. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Mich beruhigen seine Worte gar nicht. Im Gegenteil.
»Hattest du eine Schlägerei?«, frage ich, allerdings im Scherz, denn mein Guido würde sich nie und nimmer prügeln. Ich schubse ihn vorsichtig weg vom Kühlschrank und hole den Eisbeutel aus dem Gefrierfach.
»Genau, den brauche ich«, sagt er.
Ja, das glaube ich allerdings auch.
»Setz dich hin«, fordere ich ihn auf.
Dann schaue ich mir sein Gesicht genauer an. Sein rechtes Auge ist praktisch ganz zugeschwollen, das Auge selber scheint aber nicht wirklich verletzt zu sein. Wenigstens, soweit ich das überhaupt beurteilen kann. Auch am Kinn hat er ein paar Kratzer. Vielleicht ist es wirklich nicht so schlimm.
Vorsichtig lege ich den Eisbeutel auf sein Auge.
»Es war ein Pferd«, schimpft er. »Ein verdammtes Pferd!«
Guido hasst Pferde. Zum Glück hat er auch selten mit ihnen zu tun. Pferde sind edel und teuer. Da lassen die Besitzer nicht den einfachen Feld-Wald-und-Wiesen-Tierarzt ran. Außer im Notfall.
»Gloria hat mich gebeten, mal kurz nach ihrem Hengst Hasso II. zu schauen. Der war aber eigentlich ganz fidel. Jedenfalls fit genug, um mich mit einem kurzen Schwung seines Schädels einfach umzunieten.«
Er lacht grimmig.
»Auf die Hufe habe ich ja aufgepasst. Aber nein. Mit dem Kopf! Gefällt wie einen Baum hat er mich. Zack. Ich hatte keine Chance.«
Ja, ja, Pferde sind doof. Aber Gloria – eine attraktive Frau, wohl die schönste hier weit und breit. Klar, dass jeder antanzt, wenn sie pfeift, sogar mein Guido, der große Pferdehasser.
»Bist du sicher, dass du keinen Arzt brauchst, Schatz?«, frage ich nun fürsorglich. Aber ich kenne die Antwort schon.
Und genau, sie kommt: »Ich bin Arzt!«
Wenn man schon so lange zusammen ist wie wir zwei, dann kennt man sich halt. Viele von Guidos Antworten könnte ich mit hundertprozentiger Treffsicherheit voraussagen. Warum frage ich dann noch? Selber schuld. Guido verarztet sich grundsätzlich selber, nimmt Medikamente, die eigentlich für Tiere vorgesehen wären. Auch Salben und Wickel verwendet er aus seiner eigenen Praxis. Und er hat damit meist Erfolg. Ich habe bei Gelenkschmerzen auch schon seine Salben ausprobiert, und sie waren keinesfalls schlechter als die von meinem Hausarzt – und auf jeden Fall nur halb so teuer.
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