Und dann geht Bärbel endlich ins Detail: »Wir haben über deine blöde Hochzeitsreise gesprochen. Und ich fragte Berti, ob er denn noch Lust hätte, mit mir eine Hochzeitsreise zu machen, mit Romantik und so, nach all den Jahren. Ich könne mir das irgendwie gar nicht richtig vorstellen, wie man nach dreißig Ehejahren die Hochzeitsreise nachholen könne.«
Jetzt schaue ich sie doch aufmerksam an und stelle das Putzen ein.
»Er hat laut gelacht. Er hat mich ausgelacht. Ich solle nicht albern sein. Albern! So ein richtiges Paar seien wir ja sowieso nicht mehr.« Daraufhin hätten sie ein stundenlanges Gespräch gehabt, offen, ehrlich und schonungslos. Bärbel klagt mich an: »Du bist schuld! Sonst hätten wir weitergemacht wie bisher, ohne Worte nebeneinanderher gelebt. Jetzt, wo wir so vieles ausgesprochen haben, scheint mir unsere Ehe irreparabel beschädigt zu sein. Wieso sollen wir zusammenbleiben, wenn wir keine Liebe mehr füreinander empfinden?«
Im Kälti angekommen, öffne ich die Schiebetüren. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Siebenundzwanzig Amerikaner steigen ein. Sie werden vom Reiseleiter Jordan begleitet, den ich inzwischen gut kenne. Wir begrüßen uns freundlich. Die Gäste stürmen aufs Oberdeck, Jordan lacht und folgt ihnen leichtfüßig die Treppe hoch. Um diese Gruppe muss ich mich nicht kümmern. Jordan wird ihnen alles erzählen und erklären, wird sie mit seinem Charme einwickeln. Da störe ich nur. Ich schließe die Glastüren. Simon, der Maschinist, winkt mir zu. Ich gebe das »Bereit« in den Bordcomputer ein, warte das Aufleuchten des »Gegenbereit« ab und drücke dann den Startbefehl. Während ich das Feld für die Statistik bearbeite, das heißt, die Zahl 27 eintippe, heben wir schon ab und gondeln dem Gipfel entgegen.
Jetzt habe ich wieder Zeit für meine Freundin. Ihre Worte haben mich erschüttert.
»Du, Bärbel, das tut mir total leid. Aber was soll ich dazu sagen? Du weißt, meine Ehe ist auch ein wenig lauwarm. Ich wünschte mir manchmal so ein Gespräch, wie ihr es geführt habt. Allerdings hast du mir jetzt grad Angst davor gemacht. Und denkst du nicht, dass am Ende, wenn die Emotionen sich etwas beruhigt haben, das Gespräch doch irgendwie gut war? Vielleicht ist dann eine Art Neuanfang möglich?«
Sie schüttelt resigniert den Kopf, und Tränen laufen ihr übers Gesicht. Ich insistiere weiter: »Das kann ich einfach nicht glauben. Jeder Therapeut sagt doch: Reden, reden, reden. Das habt ihr jetzt gemacht. Vorbildlich. Also warte es doch mal ab.«
Bärbel schnäuzt sich lautstark die Nase.
Sie erklärt: »Ich denke gerade über einen wirklichen Neuanfang nach. Einen ganz ohne Berti.«
Oh.
Jetzt fühle ich mich wirklich einen kleinen Moment lang schuldig. Aber nur einen winzig kleinen. Denn sofort stellt sich mir die Frage: Kann es wirklich besser sein, nicht zu wissen, was der andere denkt und fühlt? Ein Zusammenleben im Nebel? Kann ein offenes Gespräch so viel zerstören? Eigentlich war doch wohl schon alles vorbei, man hatte, was geschehen war, nur noch nicht in Worte gefasst. Trotzdem musste das nicht Ausgesprochene doch ständig in der Luft hängen. Erstaunlich, dass die beiden noch atmen konnten.
Das alles behalte ich für mich, es gibt im Moment nichts mehr zu reden. Bärbel nimmt einen Putzlappen und putzt, als gäbe es kein Morgen. Sie findet das hinterletzte Hundehaar und das winzigste Steinchen unter der Holzbank. Ich habe die sauberste Seilbahn der Welt, als Bärbel sie verlässt, um arbeiten zu gehen. Ich drücke meine Freundin noch einmal fest an mich.
»Du kannst immer auf mich zählen!«, verspreche ich ihr, worauf sie ein wenig lächelt.
Es ist ein schiefes Lächeln, das mir im Herzen wehtut.
Bärbel ist meine beste Freundin. Meine einzige Freundin. Wenn es ihr so schlecht geht, dann bedrückt mich das auch. Wir haben uns vor dreißig Jahren kennen gelernt, vor einer halben Ewigkeit also. Sie war wegen Berti nach Stans gezogen, ich wegen Guido, und wir fühlten uns beide ein wenig verlassen, hatten noch keine Kontakte. Wir lernten uns im Spital kennen, im Wochenbett. Bärbel bekam Josy, ich Claire. Es war wie ein Zeichen, das wir dankbar annahmen. Seither sind wir unzertrennlich.
Jetzt lässt sie mich nachdenklich zurück, und ich bin froh um jede Touristengruppe, die heute kommt und mich beschäftigt.
Irgendwann beginnt es zu regnen, und trotzdem bestehen die Gäste auf einem Besuch auf dem Dach.
»Wir haben das schließlich bezahlt!«, erklärt mir eine junge Frau aus Deutschland.
Dabei gibt es auch da oben überhaupt keine Aussicht mehr. Gar keine. Wir fahren durch Regenwolken. Ich trockne ständig die nasse Treppe, schaue, dass das Wasser nicht in die Elektronik hineinrinnt. Es gibt aber Leute, die so eine Fahrt im Regen richtig genießen. Es darf sogar kalt sein.
»Kühl ist cool«, meinte eine Inderin neulich. Sie genoss es, durch die Regenwolken zu fahren. In ihrem Heimatland hätten sie gerade vierzig Grad.
Nein, so viel Hitze braucht wirklich keiner. Es reicht, dass auch unsere Sommer immer heißer werden. Trotzdem: Wenn es stärker regnet, richtig schüttet, vielleicht auch noch windet, dann müssen wir das Dach schließen. Und ich muss die Proteste der Touristen dann charmant weglächeln. Aber so was kann ich.
Nach Feierabend spaziere ich kurz am Bahnhof vorbei, um zu schauen, wie es Bärbel geht. Sie führt den Bahnhofkiosk und ist grad ganz schön beschäftigt. Darum blättere ich in ein paar Zeitschriften, bis sie Zeit für ein paar Worte findet.
Ha!
Ich dachte es ja schon immer, aber jetzt weiß ich es ganz sicher, weil es hier steht, in dieser bunten Illustrierten: »Mehr Sex in roter Bettwäsche!«
Die Schlagzeile macht mich neugierig, und so überfliege ich den Artikel, der alles darüber weiß, welche Farbe man bei welchen sexuellen Problemen für die Bettwäsche wählen soll. Ist es nicht wunderbar, wenn die Welt und das Leben einem so einfach erklärt werden? Bisher habe ich mir noch nie Gedanken über die Farbe meiner Bettwäsche gemacht.
»Sexprobleme, liebe Judith? Habt ihr überhaupt noch Sex?«, fragt mich Bärbel belustigt, die nun kurz für mich Zeit findet und mir über die Schulter schaut.
»Nun, hätte ich Sexprobleme, fände ich hier ja die Lösung«, gebe ich lachend zurück.
Bärbel erklärt grinsend, dass sie auch immer viel aus diesen Zeitschriften lerne.
Ich frage sie ernst: »Kannst du arbeiten? Geht es?«
Sie nickt und sagt: »Ich bin ein großes Mädchen. Arbeiten geht immer. Arbeiten hält die Welt zusammen.«
Und schon kommt wieder Kundschaft.
Von der Ansichtskarte über Zigaretten, vom Apfel bis zur Zeitung: Bei Bärbel kann man alles kaufen. Ich beobachte sie eine Weile und denke, dass sie mir ähnlich ist. Sie funktioniert auch in Situationen wie dieser. Sie strahlt und lächelt, albert mit Stammkunden herum, hört ihnen zu.
Dabei weint sie innerlich.
Eine starke Frau.
»Arbeiten hält die Welt zusammen« – dieser Satz könnte von mir stammen. Aber was sagt er über Bärbel und mich aus?
Irgendetwas gefällt mir daran nicht, ich weiß nur noch nicht, was. Wahrscheinlich möchte ich einfach, dass andere Dinge meine Welt zusammenhalten. Liebe und Geborgenheit zum Beispiel. Ich bin wohl ein Weichei.
Gerade will ich mich davonstehlen, da stellt sich mir ein pickelgesichtiger Junge mit Stachelhaarfrisur in den Weg.
»Können Sie mir helfen?«, fragt er, und weil ich denke, dass er mich anbetteln will, habe ich schon das böse Nein auf der Zunge. Er aber erklärt schnell: »Ich möchte ein Glückslos kaufen, aber die dürfen das erst an Leute ab achtzehn Jahren abgeben.«
Er hält mir fünf Franken hin.
»Wie alt bist du denn?«
»Vierzehn.«
»Und was kostet das Los?«
»Fünf Franken.«
Nun, es mag sicher gute Gründe geben, diese Lose erst an mindestens Achtzehnjährige zu verkaufen. Ich habe noch nie eines gekauft, kann also nicht mitreden. Viel Zeit zum Überlegen habe ich nicht, und der Junge ist ja nicht mein Kind. Ob das nun pädagogisch wertvoll ist oder nicht, ist mir eigentlich grad egal. Klar, ich würde ihm keinen Alkohol und keine Zigaretten kaufen. Aber ein winziges, kleines Glückslos? Ich mache es einfach und kaufe ihm das Los. Bärbel lächelt, denn sie kennt den Trick und den Jungen auch.
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