Menschen brauchen Bilder.
»Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« 1. Kor 13,12
Dabei wäre es unbarmherzig und unrealistisch, von den Menschen zu verlangen, sie sollten sich gar keine Bilder und Vorstellungen von Gott machen. Ein Gottesglaube ohne Bilder und Vorstellungen, wie er von Bilderstürmern immer wieder einmal gefordert wurde, wäre etwas sehr Theoretisches, Abstraktes und Blutleeres, zu erreichen nur um den Preis der Unterdrückung und Leugnung von Phantasien und Emotionen. Auch die Bibel, die ja alles andere will als einen abstrakten Glauben, verwendet deshalb Bilder, wenn sie von Gott spricht (vgl. z.B. Ps 23; Jes 66,13; 5. Mose 32,4.11; im Neuen Testament die Gleichnisse Jesu). Entscheidend ist, dass wir uns unserer Projektionen bewusst werden, dass wir sie uns eingestehen und dass wir immer wieder bereit sind, sie zu modifizieren und gegebenenfalls hinter uns zu lassen.
Karl Marx: Religion als Opium des Volkes
Von der Interpretation zur Veränderung der Welt
→ Karl Marx
Karl Marx (1818–1883) nahm die religionskritischen Gedanken Feuerbachs auf und führte sie weiter. Er warf Feuerbach wie auch allen anderen Philosophen vor, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, während es doch darauf ankäme, sie zu verändern. Deshalb interessiert Marx auch weniger die philosophische Auseinandersetzung mit der Gottesfrage – die hält er durch Feuerbachs Arbeiten im Wesentlichen für erfolgreich abgeschlossen –, sondern vielmehr die Analyse und Kritik derjenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen überhaupt dazu bringen, sich in eine religiöse Phantasiewelt zu flüchten. Marx begründet seine Religionskritik also weniger durch philosophische als durch historische, soziologische und ökonomische Überlegungen, auf die im Einzelnen noch in einem späteren Kapitel zurückzukommen sein wird: »Der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.« 15
Religion als »Überbau« der Produktionsverhältnisse
Religion ist für Marx etwas aus der materiellen Not Geborenes, das Produkt ungerechter und unmenschlicher gesellschaftlicher Lebensbedingungen. Sie gehört wie Kunst, Bildung, Wissenschaft oder Philosophie zum ideologischen »Überbau« einer nach dem Prinzip wirtschaftlicher Ausbeutung funktionierenden »Basis« der »Produktionsverhältnisse« und ist somit nichts anderes als deren Spiegelbild: »Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, […] ihre Logik in populärer Form […], ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund.« 16Wenn Marx in diesem Zusammenhang Religion als »Opium des Volkes« 17bezeichnet, meint er damit zweierlei: Einerseits hat Religion eine einschläfernde, opiatische Wirkung auf die unterdrückten Volksmassen. Indem sie ihnen – ähnlich wie die Opiumpfeife dem chinesischen Kuli – ein paradiesisches Jenseits vorgaukelt, sie Demut, Gehorsam und Tugendhaftigkeit lehrt, lenkt sie von der notwendigen revolutionären Veränderung der bestehenden Gesellschaft ab. Insofern kommt sie der herrschenden Klasse sehr gelegen, zumal ihre Vertreter durch gelegentliche Almosen auch noch das Gefühl haben können, besonders wohltätig und gottgefällig zu leben. Andererseits ist Religion als Opium nach Marx jedoch auch eine Lebensäußerung »des (!) Volkes«, eine »Protestation gegen das … Elend …, der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt ,… der Geist geistloser Zustände« 18und somit auch Ausdruck eines – allerdings unzulänglichen – Widerstands gegen die bestehenden Verhältnisse.
Religion ist Droge und Protestation zugleich.
Religion stirbt in der klassenlosen Gesellschaft von selbst ab.
Marx zieht anders als Lenin (1870–1924), der vom »Opium für (!) das Volk« 19spricht und somit den Protestcharakter von Religion nicht mehr sieht, deshalb auch nicht den Schluss, man müsse Religion besonders nachdrücklich bekämpfen oder gar mit Gewalt ausrotten. Da Religion für ihn nur ein Symptom gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entfremdung ist, muss man in allererster Linie die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entfremdung aufheben. Dann, in der klassenlosen Gesellschaft, einem in jeder Hinsicht paradiesischen Zustand auf Erden, wird Religion, weil sie überflüssig geworden ist, von selbst verschwinden. Um allerdings eine solche Revolution möglich zu machen und in Gang zu bringen, muss auch die Verschleierungsfunktion der Religion, ihr ideologischer Charakter, immer wieder entlarvt und der Blick der Menschen auf das wahre und unbeschönigte Elend der gesellschaftlichen Verhältnisse gelenkt werden. Religionskritik will also »die imaginären Blumen an der Kette« zerpflücken, »nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch …« 20
Rückfragen an Marx
Christliche Religion kann »Opium des Volks« sein.
→ Soziale Frage des 19. Jh.
Marx ist in jedem Fall zuzugestehen, dass sein Vorwurf der Verschleierung und Stabilisierung der ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse im Hinblick auf das Christentum des 19. Jahrhunderts weitgehend seine Berechtigung hatte. Ein selbstkritisches Christentum ist Marx insofern auch zu Dank verpflichtet. Wie noch zu zeigen sein wird, stand insbesondere die offizielle evangelische Kirche in Deutschland damals in einem unglücklichen Bündnis von Thron und Altar weitgehend wirklich auf der Seite der Reaktion und der Unterdrückung. Und auch heute dient Religion und auch christliche Religion in vielen Ländern der Welt den Herrschenden zweifellos immer noch als Opiat zur Einschläferung und Ruhigstellung der ausgebeuteten und unterjochten Untertanen.
Christliche Religion muss aber nicht »Opium des Volks« sein.
Nun wäre es allerdings falsch, derartige Phänomene mit Religion oder Christentum schlechthin gleichzusetzen. Dafür, dass Religion auch nicht-opiatische, revolutionäre Züge haben kann, gibt es ebenso viele Beispiele. Genannt seien für das Christentum des 20. Jahrhunderts hier etwa nur Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, Camilo Torres, Ernesto Cardenal, Dom Helder Camara, Abbé Pierre oder Bischof Tutu. Dass radikales Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit, die Beseitigung von Armut und Elend und menschliche Gesellschaftsformen dabei dem Kern des biblischen Gottesglaubens mehr entsprechen als eine den Status quo religiös überhöhende und stabilisierende Frömmigkeit, wird im Folgenden hoffentlich noch deutlich werden.
»Darum, weil ihr die Armen unterdrückt und nehmt von ihnen hohe Abgaben an Korn, so sollt ihr in den Häusern nicht wohnen, die ihr von Quadersteinen gebaut habt, und den Wein nicht trinken, den ihr in den feinen Weinbergen gepflanzt habt. Denn ich kenne eure Frevel, die so viel sind, […] wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt.« Am 5,11f .
Kritisch ist zu Marx’ Religionskritik weiter anzumerken, dass an ihn, soweit er sich mit seiner Argumentation auf Feuerbachs Projektionstheorie stützt, genau dieselben Anfragen zu richten sind wie an Feuerbach. Aber auch die Punkte, in denen Marx über Feuerbach hinausgeht, provozieren eine Fülle von Fragen, deren Berechtigung zunehmend auch von marxistischen Philosophen wie z.B. Milan Machoveč, Ernst Bloch oder Roger Garaudy gesehen wurde:
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